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Betr.: Briefe aus Sarajevo

Liebe Gudrun, Gott sei Dank sind wir alle lebendig. Wir haben Hunger und wenig zu essen. Ich schreibe diesen Brief und hoffe, daß du uns helfen kannst.

[...] Wir sind traurig und arm, aber wir müssen leben. Hoffnung, Hoffnung, Hoffnung. Gott ist der Größte.

Werde ich dich jemals wiedersehen? [...] Schreib mir über dich. Ich habe einen wunderbaren Kater. Der guckt mich den ganzen Tag an und wartet auf Fressen. Ich kann ihm nichts geben. Dann jagt er einen Vogel.

Wir haben keinen Strom und kein Wasser. Die Leute in Sarajevo sehen schrecklich aus. Ich werde eine alte Frau – meine Kleider werden mir alle zu groß.

Mit aller meiner Liebe, Deine Aișa

Sarajevo, 19.12.1992

Liebe Gudrun, vor einer Woche habe ich die Päckchen bekommen. Sie kamen im richtigen Moment, denn ich hatte nur wenig zu essen. Bei uns war gerade ein hoher religiöser Festtag (Bajram), und ich hatte keinen Zucker und andere Zutaten. Aber mit Deinen beiden Paketen konnte ich einen Kuchen und ein wunderbares Abendessen bereiten. Danke.

Bei jedem Bissen dachte ich: Danke Dir Gott. [...]) Gudrun, Du wirst nie erfahren, was deine Hilfe uns bedeutet.

Unser Leben ist hart und traurig. Wir haben keinen Strom. Jeden Tag gibt es eine Stunde Wasser – oft gibt es zwei oder drei Tage gar keins. Die humanitäre Hilfe ist sehr bescheiden, und wir sind oft hungrig. Nachts träume ich vom Essen. Es ist schrecklich.

Auf dem Markt können wir Lebensmittel aus der humanitären Hilfe kaufen. Aber ich habe nicht genügend Mark (Zucker kostet 20 Mark, Öl 25 und Zigaretten 3 Mark). In meinem Büro verdiene ich 5 Mark im Monat in bosnischen Dinaren. Ich kann nichts kaufen.

Die Menschen in Sarajevo sind angespannt und nervös. Ich bin eine verrückte Frau. Neulich habe ich morgens zwei Suppen gekocht. Unser Feind schickte an dem Tag viele Granaten in die Stadt, und so kochte ich zwei Suppen.

Unser Feind tötet uns jeden Tag. Wenn ich zur Arbeit gehe, weiß ich nie, ob ich lebendig nach Hause zurückkomme und mit beiden Armen und Beinen. Ich sage ständig: Gott helfe mir, helfe mir und meiner Familie und allen Menschen in Bosnien! Wenn ich im Garten sitze, fliegen die Bomben über meinen Kopf, und die Kugeln kommen mir ganz nahe. Abends sitzen wir im Dunkeln. Wir bewahren die Kerzen für die langen Nächte im Winter auf – falls wir dann noch leben.

[...] Werde ich Dich je wiedersehen?. Gott schütze dich, danke Dir. Deine Freundin Aișa

Sarajevo, Juni 1993

Liebe Gudrun, ich schicke Dir diesen Brief mit einem Mädchen aus meiner Nachbarschaft, das nach Berlin ins Krankenhaus kommt.

Wie geht es Dir und Deiner Familie? Was macht Dein Doktorat? Warum schreibst Du mir nicht?

Unser Leben ist schwer. Wir haben wieder keinen Strom, kein Wasser und kein Gas. Im Moment regnet es gerade, und wir haben Eimer im Garten aufgestellt. Mitten in der Nacht kochen wir (in den zwei Stunden, in denen es Gas gibt).

[...] Deine Lebensmittel sind eine große Hilfe für meine Familie. Wir sind hier jeden Tag hungrig. Außer, wenn dein Paket kommt. Dann gibt es Essen auch für alle Verwandten. Esma [die Tocher, d. Red.] bekommt die Schokolade.

Letzte Nacht habe ich von zwei Kuchen geträumt.

Ich hoffe, daß ich, wenn ich dann noch lebe, etwas von Deiner Güte erwidern kann. Wenn ich sterbe, wird es meine Esma tun.

[...] Unsere Verwandten auf dem Land können nicht helfen. Sie schicken Pakete, aber die kommen hier nie an. Die humanitäre Hilfe reicht auch nicht.

Seit Kriegsbeginn habe ich kein Ei und keine Milch mehr gesehen.

[...] Wir sprechen jeden Tag von Dir. Nachts träume ich von Essen, es ist schrecklich.

Einmal war ich so hungrig, daß ich an Esmas Essen gegangen bin. Ich habe mich furchtbar geschämt. Am nächsten Morgen habe ich ihr von meinem Essen gegeben und sie um Verzeihung gebeten.

[...] Wenn Du helfen willst, schick Essen und Medizin. Mit Liebe, Aișa

Sarajevo, 27. Oktober 1993

Liebe Gudrun, schönsten Dank, daß Du Dich an mich erinnert und Dich gemeldet hast. [...] Zu Deiner Frage, wie es mir geht und wie ich lebe: Es geht mir gar nicht. Was das Leben betrifft, ich existiere nur noch. Verletzt oder verwundet bin ich, Gott sei Dank, nicht. Was die Gesundheit angeht, ist alles O.K. Du fragst, ob es Nahrung gebe. Es gibt keine oder zu wenig. Es ist sehr schwer, die zu kriegen, besonders hier in Sarajevo, weil die Stadt hoffnungslos blockiert ist. Die Nahrungspakete, die du erwähnst, würden mir und meinen Freunden und Bekannten ganz gut tun.

Tarik, Sarajevo, den 17. 3. 1993

P.S. Taso ist leider am 13. September 1992 ums Leben gekommen. So gut ich kann, helfe ich jetzt seiner Familie.

P.S.II [...] Ich möchte Dich noch zu einem Besuch nach dem Krieg einladen. Du wirst nicht lange darauf warten müssen!

Liebe Gudrun, danke für Deinen Brief. Ich habe leider gar kein Paket von Dir bekommen. Über die humanitäre Hilfe für Sarajevo und Bosnien-Herzegowina mußt Du wissen, daß wir eine Menge Probleme haben.

Ich glaube, das ist eine gewöhnliche kriminelle Sache, und wir verlieren viele Pakete. Ich schlage eine andere Lösung vor: Du schickst mir [...] eine Vollmacht, damit ich als Vertreter Deiner humanitären Organisation auftreten kann. Ich habe Lagermöglichkeiten und kann auch die Verteilung übernehmen.

[...] Das Leiden hier ist grenzenlos. Viele Grüße, Tarik

Sarajevo, 22. September 1993

Liebe Freunde, ich bin die Frau von Malik, ich heiße Mirsada. Ich schreibe statt seiner. Bis jetzt ist Malik unverletzt und am Leben. Nur – bis wann? Er ist in Stellung und verteidigt Sarajevo gegen die Tschetniks.

Ich habe geweint, als wir den Brief bekommen haben. Denn ich habe gedacht, daß wir Bosnier vergessen und verlassen sind. [...]

Die meisten unserer Freunde aller Nationalitäten haben Sarajevo verlassen. Sie hatten irgendwo Verwandte. Sie sind aus dieser Scheußlichkeit entflohen. Wir nicht, denn wir wissen nicht wohin, alles, was uns lieb ist, ist in Sarajevo.

Das einzige, das die Moral aufrechterhält, ist die Tatsache, daß wir, die wir geblieben sind, auch weiterhin zusammen sind, ungeachtet der Nationalität. Es ist ihnen nicht gelungen, uns zu spalten. Der eine Nachbar ist Serbe, und wann immer er etwas Brot besorgen kann, besorgt er es auch für mich. Die Nachbarin, mit der ich mich am liebsten unterhalten, ist Kroatin. [...] Deswegen bitte ich Euch, allen zu sagen, sie sollen nicht auf die Extremisten hören, die uns vernichten. Daß wir normale Bürger für die Einheit sind. Daß wir immer zusammengelebt haben, daß wir auch jetzt zusammenleben und das auch weiterhin können, nur haben wir nichts, um uns vor den Extremisten – Tschetniks und Ustaschas – zu verteidigen.

Herzliche Grüße von Malik und Mirsada

Sarajevo, März 1993

[Es folgen mehrere Adressen von Freunden]

Liebe Gudrun, es fällt mir schwer, dir aus Sarajevo zu schreiben. Hier ist Krieg, und das Blut fließt.

[...] 1992 habe ich in Zagreb meine Magisterarbeit gemacht. Ich konnte Dich nicht anrufen, weil der Krieg angefangen hat.

[...] Wir haben 10 Monate nichts voneinander gehört. Ich schreibe Dir diesen Brief, damit du weißt, daß ich lebe. Obwohl ich nicht weiß, ob Du diesen Brief bekommst. Auf jeden Fall denke ich viel an Dich. Bitte schick mir Zeitungen aus Deutschland über diesen Krieg in Bosnien.

[...] Wenn Du Probleme hast, diesen Brief zu lesen, liegt es daran, daß es hier kalt ist. Mir zittern die Hände.

Husnija

Sarajevo, 6. 1. 1993

Monate später folgt vom selben Absender ein Brief auf englisch:

Liebes Fräulein Gudrun, danke für das Päckchen. Hoffentlich hast Du meinen Brief vom Januar bekommen.

Hier ist Krieg, ein blutiger Krieg. Viele Leute werden auf den Straßen von Sarajevo massakriert. Jeden Tag feuern die Serben in die Stadt hinein. Weil ich seit Kriegsbeginn nicht arbeiten konnte, habe ich nichts geschrieben. Manchmal gehe ich zum Archiv, weil ich gerne meine Doktorarbeit fertig machen würde. Aber es ist zu schwierig. Ist Deine Doktorarbeit fertig?

Wenn Du kannst, schick mir diese Medizin: [es folgen Vitaminpräparate und Mittel gegen Anämie]

Ich würde mich freuen, Dich wieder in Sarajevo zu sehen.

Husnija

Historisches Institut, Sarajevo, 30. September 1993

Liebe Freunde, ich weiß nicht, wie ich anfangen soll. Wie soll ich unsere Situation hier bechreiben. Unser Leben im Krieg, der uns an den Plätzen, die wir so gut kennen, erwischt hat. Merkwürdig, sehr merkwürdig.

[...] Ich mußte unglaublich schnell umziehen. Die alte Wohnung war wunderschön. Göttlich. Arbeit hatte ich auch. Jetzt habe ich plötzlich nichts mehr. Keine Wohnung, keine Arbeit. Einfach nichts. Ich lebe jetzt von der humanitären Hilfe, ohne Geld.

[...] Ich würde gerne das Land verlassen. Ich habe keinen Mann. Ich habe keine Eltern. Wenn ich diesen Krieg überlebe, muß ich ganz von vorne anfangen. Ich weiß nicht, wie Ihr das aufnehmen werdet, aber ich hoffe, daß ihr versteht, daß wir hier leben wie Tiere. Es wird sehr lange dauern, bis ich aus der Situation heraus bin, in der ich Hilfe brauche.

[...] Der Winter kommt, und wir haben nichts zum Heizen. Für meinen Sohn könnte ich ein Paar Schuhe, Größe 41, brauchen, die einigermaßen wasserfest sind. Und für mich wäre eine Jeans Größe 42 am wichtigsten. Ich kann es nicht fassen. Dieses animalische Leben.

Ich bin 45 Jahre alt, habe Kulturwissenschaften studiert. Ich weiß, es könnte lächerlich klingen, was ich hier schreibe. Aber ein Mädchen braucht einen Jungen. Ich schicke euch eine Fotografie. Ich bitte euch, tut irgend etwas für mich und meinen Sohn. Ich werde Euch sehr dankbar sein. mit meinen besten Grüßen,

Safeta

Sarajevo, Oktober 1993

Liebe Gudrun, ich erinnere mich an die Zeit, als wir zusammen waren. Ich hoffe, daß es Dir gutgeht und daß Du Dein Studium beendet hast und jetzt vielleicht irgendwo in Berlin arbeitest.

Vielleicht weißt Du, daß die Stituation in Bosnien-Herzegowina sehr schwierig ist. Ich kann nicht anders, als Dich fragen, ob Du uns mit Essen und Geld helfen kannst. Entschuldige diesen Brief, aber ich habe keine andere Wahl.

Argon

Sarajevo, Januar 1993

P.S. Wenn Du einen Golddetektor findest, schick ihn mir bitte mit dem Essenspaket.

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