Sanssouci: Vorschlag
■ Beeban Kidrons Fernsehfilm „Oranges are not the only fruit“ im Eiszeit-Kino
Pastor Finch ist ein Spezialist für Teufelsaustreibungen. „Only yesterday I cleansed a whole family in Cheadle Hulme.“ Der gute Pastor spielt in seiner Gemeinde der „Charismatischen Evangelisten“ eine gewisse Rolle, im Film ist er von eher untergeordneter Bedeutung. Wie in fast allen Kirchen Europas sind die Gemeindemitglieder hauptsächlich ältere Frauen. Die Kirche ist Ersatz für Familie, Beruf, Tanzveranstaltungen – eine Möglichkeit, am Leben teilzunehmen. Bemitleidenswerte, lächerliche Geschöpfe, ohne die keine Gemeinde existieren könnte, und die dennoch ohne Bedeutung sind. In diesem Film spielen sie die Hauptrolle.
Der preisgekrönte Fernsehdreiteiler der englischen Regisseurin Beeban Kidron erzählt von der Kindheit und Jugend eines jungen Mädchens in einer nordenglischen Kleinstadt. Die kleine Jess wächst bei ihren Adoptiveltern auf, die beide Mitglieder von Pastor Finchs Evangelisten sind. Die Geschichte spielt in den Sechzigern und Siebzigern, aber sie wirkt merkwürdig zeitlos. All diese Woll- und Tweedkostüme scheinen keiner bestimmten Mode zuzurechnen zu sein. Sie sind einfach englisch. Jess' Eltern sind arm, und doch ist ihnen muffige Arroganz zu eigen, die das Tragen von Secondhand-Kleidern kategorisch ablehnt. Ein neuer, scheußlicher billig-rosaner Regenmantel wird zum Ausdruck ihres Stolzes und ihrer moralischen Überlegenheit.
Der Vater bleibt eine schemenhafte Figur in diesem Film. Lange Jahre arbeitet er als Schichtarbeiter nachts, das heißt, er steht auf, wenn Mutter und Tochter schlafen gehen, vice versa. Jess wird von ihrer Mutter erzogen. Eine Frau, die die Schule als Teufelswerk ablehnt und ihre Tochter erst auf massiven Druck der Behörden hin zum Unterricht schickt. Unter ihren Klassenkameradinnen findet das Mädchen in seinen komischen Kleidern und mit den biblischen Aufsätzen keine Freundin. Ihre einzigen Bekannten sind die Kirchenmitglieder. Frauen im Alter ihrer Mutter. Alte Schachteln, man kann sie wirklich nicht anders nennen. Eine schreckliche Kindheit? Ganz gewiß nicht.
Kidron weiß eine Menge über Familien. Diese Gemeinde funktioniert genauso. Wie in einem kleinen Dorf nehmen alle Anteil an allem. Der Klatsch ist unglaublich, Menschen werden ausgestoßen und wieder aufgenommen. Diese Frauen sind häßlich, weil sie alt sind. Keine zombiehaft zurechtoperierten Senioren aus amerikanischen Filmen. Die Wollkostüme passen gut zu ihnen und auch die Queen-Mum-Hüte. Kidron verschweigt nichts von der Bigotterie, die ihnen anhaftet, und zeigt trotzdem, wie lebendig sie sind. Welchen Spaß sie haben am Strand, bei einer Beerdigung oder in der Kirche, wo sie zu ihren Liedern die Hüften schwingen, wie man das sonst nur von afro-amerikanischen Kirchengemeinden kennt. Aufeinander angewiesen, sind sie sich beständig eine Qual und ein Trost. Jess lebt mit größter Selbstverständlichkeit in dieser Welt.
Foto: Verleih
Sie verliebt sich in ein Mädchen, das sie an einem Fischstand in einer Markthalle kennengelernt hat: „This can't be unnatural passion“, sagt sie, und das Merkwürdige ist, daß sie diesen Satz nicht trotz, sondern aufgrund ihrer Erziehung aussprechen kann. Die Reaktion der Gemeinde ist grausam. Pastor Finch und die Frauen, die bis jetzt ihre einzigen Freundinnen gewesen sind, versuchen, ihr in einem bizarren Exorzismus-Ritual „den Teufel“ auszutreiben. Jess löst sich langsam von dieser Gemeinde, die bis jetzt ihre ganze Welt war. Und wie Kidron diese langsame Ablösung zeigt, macht ihren Film schlicht atemberaubend.
Es ist nicht ihr Verdienst allein. Man könnte sich die Haare raufen, wenn man sieht, was für Schauspieler ihr zur Verfügung stehen. Keine Stars. Einfach wunderbare, britische Schauspieler wie Charlotte Coleman (Jess), Geraldine McEwan (Mutter) und Margery Withers (Elsie). Jeanette Winterson hat mit der Vorlage (jetzt beim Fischer Verlag erschienen) bereits Preise gewonnen, und sie hat ihr Buch auch für den Film adaptiert. Schließlich wäre noch die Produzentin Phillipa Giles zu nennen, die ebenfalls am Drehbuch mitgeschrieben hat. Kidron ist vielleicht einigen bekannt durch ihre Filme „Antonia und Jane“ und die „Herbstzeitlosen“, eine amerikanische Großproduktion mit Marcello Mastroianni und Shirley MacLaine in den Hauptrollen. Zur Zeit dreht sie „Great Moments in Aviation“, die Geschichte einer Frau aus der Karibik, die in den fünfziger Jahren nach England geht, um eine große Fliegerin zu werden.
„Oranges are not the only fruit“ zeigt eine Wahrheit, die man sonst nie im Kino zu sehen bekommt: die sonderbare Tatsache, daß dieselben Leute, die für deine Neurosen sorgen, dir gleichzeitig Kraft geben können und ein Fundament. Jess geht zum Schluß nach Oxford, weil sie, wie sie sagt, außer der Bibel noch viele Bücher lesen möchte. Anja Seeliger
Noch heute, 19.30 Uhr, Eiszeit, Zeughofstraße 20, Kreuzberg.
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