■ Bündnis 90/Grüne sollte nicht der Einfachheit halber nur von der Polarisierung in der Mitte der Gesellschaft profitieren: Für eine neue politische Transversale
Den Schock der letzten Bundestagswahlen scheinen die Grünen- West längst vergessen zu haben. Alle Umfrageergebnisse der letzten Monate zeigen konstante Werte von mindestens zehn Prozent der WählerInnenstimmen, und der Wiedereinzug in den Bundestag scheint nicht gefährdet zu sein. Offensichtlich profitieren Bündnis 90/Die Grünen von den Polarisierungserscheinungen in der Mitte der Gesellschaft.
Dabei ist die innere Stabilität des neu geschaffenen Bündnisses aus ostdeutschen Bürgerbewegungen und alter grüner Partei keinesfalls so solide wie die gegenwärtigen Umfrageergebnisse. Die spezifischen sozialen und kulturellen Milieus, aus denen Bürgerbewegungen und Grüne unter jeweils verschiedenen gesellschaftlichen Voraussetzungen hervorgegangen sind, sind nur teilweise kompatibel.
Der auf dem Hannoveraner Parteitag beschlossene Assoziationsvertrag hat zwar mit Hilfe vieler Formelkompromisse den strategisch alternativlosen Zusammenschluß der beiden politischen Kräfte besiegelt, aber er konnte die Reibungspunkte, die sich aus dem unterschiedlichen Erbe der beiden Organisationen ergeben, keinesfalls beseitigen. Die Forderungen des Bündnis 90 nach einer „inhaltlichen Reform“ der Grünen, bei der es um die „Bewältigung der sozialistischen und fundamentaloppositionellen Tendenzen“ gehen sollte, sind dort weitgehend ignoriert worden.
Der positive Bezug der Bürgerbewegungen auf Bürgerdemokratie und Marktökonomie ist für viele grüne Parteimitglieder immer noch gleichbedeutend mit der Aufgabe des antikapitalistischen, systemoppositionellen Habitus. Dennoch sollten die Widersprüche auf der Ost-West-Achse innerhalb der nunmehr gemeinsamen Partei nicht überschätzt werden, da beide politischen Formationen auch in sich relativ heterogen sind und transversale innerparteiliche Bündnisse möglich machen.
Wie immer, wenn die Grünen sich im Aufwind befinden, droht die größte Gefahr für einen Erfolg durch die eigenen Unfähigkeiten. Innerhalb der alten grünen Partei herrscht eine schon beinahe verdächtige Ruhe. Angesichts der zu erwartenden Stimmengewinne auf der einen und des Rechtstrends der SPD auf der anderen Seite scheint die Partei zusammenzurücken und den alten Fundi-Realo-Streit begraben zu haben. Ich fürchte, daß dieser Streit zur Zeit nur stillgelegt ist und jederzeit wieder ausbrechen kann.
In dem Maße, wie Bündnis 90/ Grüne durch die Polarisierung innerhalb der Mitte nach links gedrängt wird und dort Stimmengewinne erwarten kann, droht der Rückfall in eine traditionell linke Politik, die sich jetzt schon in neuen zwanghaften Abgrenzungsritualen gegenüber der SPD äußert. Paradoxerweise ist gerade der strikte Abgrenzungskurs gegenüber der SPD der sichere Weg in eine weitere Sozialdemokratisierung der Grünen, die die von der Sozialdemokratie enttäuschten WählerInnen in sich aufsaugen werden.
Zugleich konzentrieren sich – trotz vehementer Kampfansage an die SPD – die Koalitionsüberlegungen vorwiegend auf eine rot- grüne Regierung. Ludger Volmer plädiert ganz in diesem Sinne für einen „New Deal“. Sein verblüffender wie simpler Vorschlag lautet: Die grün angehauchten Mittelschichten sorgen für eine Umverteilung von gesellschaftlichem Reichtum von oben nach unten, dafür beteiligen sich die „proletarischen Unterschichten“ an einer ökologischen Wende. Er fordert: „Die grüne und die sozialdemokratische Klientel müssen sich auf ein gemeinsames Projekt verständigen, das der liberalkonservativen der Zweidrittelgesellschaft entgegengestellt werden kann“ (taz vom 27.9.1993, S. 10).
Ganz abgesehen davon, daß angesichts der gegenwärtigen Umverteilungsprozesse, die auch an den Mittelschichten nicht spurlos vorübergehen werden, dieser Vorschlag ziemlich naiv anmutet, wärmt Volmer hier in neuem Gewande das alte Zweilagermodell auf, das immer schon auf Einengung der Politik der Grünen auf ein Bündnis mit der klassisch sozialdemokratischen Klientel (linker Gewerkschaftsflügel) hinauslief. Hier der ökologisch-linke, dort der bürgerlich-konservative Block. Das, was die Grünen früher einmal stark gemacht hat und was durch die Fusion mit den Bürgerbewegungen neuen Auftrieb innerhalb der Grünen hätte nehmen können, nämlich ein lagerübergreifender, transversaler Politikansatz, der Wählerschichten aus allen Milieus anspricht und neue gesellschaftliche Bündnisse ins Auge faßt, bleibt bei dieser Perspektive vollkommen auf der Strecke. Was Volmer und andere immer noch nicht begriffen haben, ist die Tatsache, daß eine tragende Kernschicht der grünen Wählerinnen und Wähler sich selbst innerhalb des im weitesten Sinne bürgerlichen Sektors ansiedelt. In vielen großstädtischen Wohnquartieren konkurrieren Bündnis 90/Die Grünen nicht nur mit der SPD, sondern auch mit der FDP und teilweise sogar mit der CDU um aufgeklärte Wähler und Wählerinnen. Fritz Kuhn hat diese Erkenntnis in die Formel umgesetzt: „Die kommenden Wahlen werden nicht links von der SPD entschieden, sondern im wesentlichen in der Mitte der Gesellschaft“ (vgl. taz vom 3.12.1993).
Wie lassen sich vor diesem Hintergrund die drei strategischen Ziele zur Bundestagswahl 1994 – Wiedereinsetzung mit einer starken Fraktion in den Bundestag, Regierungsablösung, demokratische und ökologisch-soziale Reformpolitik – in eine Wahlkampfstrategie umsetzen, die aus der alten Lagerlogik ausbricht?
Bündnis 90/Grüne müßte:
– Das Profil einer professionellen, aber ideologisch und politisch offenen Bürgerpartei entwickeln, die programmatisch sowohl ökologische, soziale, freiheitliche als auch wertebewußte Orientierungen vertritt und für einen transversalen Politikansatz steht. Dazu gehört – bei selbstbewußter öffentlicher Vertretung eigener programmatischer Akzente – das Eintreten für ein neues konsensuales, kooperatives, nicht vorrangig auf Parteienprofilierung angelegtes Modell von Politikgestaltung, welches dem Motto folgt: Die Wahrheit kommt von vielen Seiten.
– Für das Modell eines intelligenten Lastenausgleichs zwischen Ost und West, zwischen oben und unten stehen, welches die damit verbundenen Zumutungen an die Wählerinnen und Wähler nicht verschweigt und nicht so tut, als könnte man die für das Teilen notwendigen Mittel nur aus dem oberen Drittel abzapfen.
– Die urgrüne Kritik am Modell des bürokratischen Sozialstaats durch die positive Vision eines Übergangs vom Wohlfahrtsstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft ergänzen. Die Komplementierung, aber auch Substituierung sozialstaatlicher Sicherheit durch die Wiedergewinnung sozialer Verantwortlichkeit im Rahmen eigener gesellschaftlicher Netzwerke könnte Stichwort für eine „grüne Kommunitarismusdebatte“ (Bernd Ulrich) sein.
– Eine ökologische Reformpolitik formulieren, die sich mit neuen wirtschaftlichen Interessen verbindet und den Umstieg von einer industriellen „Hardware-Struktur“ zu einer „Software-Struktur“ (Wilfried Maier) erleichtert. Längst sind Umwelttechnologien zum Wachstumsfaktor einer Industriepolitik der Zukunft geworden. Natürlich kann es dabei nicht in erster Linie um eine Erweiterung des ökologischen Reparaturbetriebes gehen bzw. darum, der bundesrepublikanischen Industrie einen Modernisierungsvorsprung vor ihren Konkurrenten zu verschaffen, sondern darum, im Rahmen eines Projekts „Ökovision“ (Jo Müller) Alternativen zu Werkstoffen, Produktionsweisen und Produkten bis zur Produktionsreife zu entwickeln. Dazu müßte bei einer potentiellen bündnisgrünen Regierungsbeteiligung eine Umstrukturierung des Forschungshaushalts zu den wichtigsten politischen Zielvorgaben gehören.
– Für eine Europapolitik einstehen, die sich nicht aus opportunistischer Angst vor einem Großdeutschland an Europa klammert, sondern in supra- und transnationalen Organisationen sowie in einer Verteidigung des Föderalismus sinnvolle und wünschenswerte Ergänzungen zum real existierenden Nationalstaat sieht. Die Hoffnung, dadurch einer Auseinandersetzung über eine Neubegründung der Identitäten in Deutschland aus dem Wege gehen zu können, sind allerdings trügerisch.
Der Nationalstaat wird vorläufig und mittelfristig seine Funktion als Bewegungsrahmen von Demokratie und Politik behalten, auch wenn es weiterhin gelingt, nationale Egoismen durch föderale und supranationale Strukturen einzugrenzen.
Um den unabweisbaren Wunsch nach einer neuen gemeinschaftstiftenden Identität in Deutschland mit Inhalt zu füllen, könnte es eine Aufgabe von Bündnis 90/Grüne sein, den Stolz auf die Institutionen und Werte der demokratischen Gesellschaft (wie zum Beispiel Rechtsstaat, Pluralismus, Toleranz, Schutz von Minderheiten), die sich in den letzten 40 Jahren im Westen der Bundesrepublik herausgebildet haben, mit dem Stolz auf den Erfolg einer demokratischen Revolution, die die wiedererlangte Einheit auf das Fundament von Recht und Freiheit gestellt hat, zu verbinden. Lothar Probst
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