■ Nebensachen aus Tokio: Weihnachtssex nach festem Ritual
Weihnachten ohne Frieden und Seligkeit, ohne Kerzen und Gemütlichkeit, statt dessen Weihnachten auf dem gelben Strand von Hawaii oder zu zweit im Love-Hotel. Alle Liebesbetten in Tokio sind für den Heiligabend Wochen vorher ausgebucht. Weihnachten in Japan – das sind Tage aggressiver Prostitution. Als wollten die Japaner in böshafter Absicht am Geburtstag einer belächelten Christenheit alle ihre Gebote brechen.
Dabei geht es doch nur um einen anderen Sinn des Feierns. Der Weihnachtssex in Japan entspricht bereits einem festgezurrten Ritual, frei von jeder Liebesbotschaft – so wie der Shintoismus bei seinen Feierlichkeiten seit jeher keine Moral kennt.
Aber können wir uns Japaner überhaupt vorstellen, die mit der bei uns meist für Familienfeste und Urlaubswochen aufgehobenen Herzlichkeit feiern, tanzen und singen? Viel geläufiger ist für uns eine Vorstellung von steifer Feierlichkeit, die den Japanern anhaftet. Kein Handschlag, kein fröhlicher Gruß führt die Menschen in Japan zusammen. Kein Kuß auf die Wange läßt Freundschaften erkennen. Statt dessen begegnen sich Familienmitglieder, zumal an Festtagen, mit einer Verbeugung, die in unserer Wahrnehmung Distanz schafft, statt Nähe auszudrücken. Noch im engsten Freundeskreis treten sich die Gutbekannten mit einer Höflichkeit gegenüber, die wir allzuleicht mit Heuchelei verwechseln würden. Wie also läßt sich unter dem Regiment ritueller Feierlichkeit überhaupt feiern?
Nicht einmal im modernen Japan laden sich die Jugendlichen gegenseitig auf Partys oder Feten ein. Tanzen bleibt ein Disco-Vergnügen für Neureiche.
Immer noch gibt eine sanfte Körpersprache in fast jeder Gesellschaft den Ton an. Den Bewegungen selbst der Stadtjugend scheint die graziöse Teezeremonie immer noch vertrauter als der ausgelassene Rock 'n' Roll. So ist es unter den feinen Damen der Hauptstadt während der Weihnachtstage besonders beliebt, auf der Ginza englischen Tee zu trinken.
Stilles Miteinander, Teezeremonie und Intrige
Doch auch dann spürt man den Einfluß der Kiotoer Mönche. In jenem stillen Miteinander im Teehäuschen eines buddhistischen Zen-Gartens liegt bis heute der Inbegriff japanischer Feierlichkeit. Es stimmt nicht ganz, daß dabei nicht gesprochen werden darf. Dies war schließlich auch die Stunde des Haiku, jenes scheinbar sinnlos aneinandergereihten, poetischen Dialogs. Indessen die Samurai im Mittelalter beim Schlürfen des erbsengrünen Teegetränks ihre geheimsten Verschwörungen planten. Gemessen an ihren menschlichen Möglichkeiten, von der feinsten Intrige bis zur höchsten Lyrik, steht die Teezeremonie der westlichen Orgie um nichts nach.
Vielleicht leben die Japaner ja tatsächlich mit einem anderen Personenbild, welches ganz andere Freuden am Zusammensein zuläßt, als wir sie für gewöhnlich empfinden. Müssen wir während der Festwoche in der Familie und unter guten Freunden nicht immer alle Höflichkeit und Form ablegen, um damit den anderen unsere Natürlichkeit zu beweisen. Dieser persönliche Offenbarungseid, der uns beim Feiern selbstverständlich anmutet, wirkt auf Japaner oft nur peinlich.
Noch im größten Vergnügen, noch im stärksten Suff wird Feiern in Japan nur selten zur privat- seelischen Angelegenheit. Das Melancholische fehlt, das der Feier bei uns oft folgt. Doch um so weiter geht die Ekstase. Keiner verläßt die Weintafel, solange die ersten nicht unterm Tisch liegen und Träger benötigen. Der Bruch mit Ritual und Höflichkeit wird dann sehr wohl als Befreiung empfunden, jedoch nicht als das Ausleben einer zweiten Identität.
So ersetzt Feierlichkeit in Japan das eigentliche Feiern, und an ihrem wichtigsten Feiertag, dem Neujahrstag, ziehen Millionen Japaner in die Schreine des Shintoismus für eine einfache Verbeugung vor der Gottheit. Von Fröhlichkeit bleibt dann keine Spur. Lustig sind die Japaner eben nicht am Feiertag. Um sich zu amüsieren, geht niemand in Japan auf Hochzeiten oder Geburtstagsfeiern. Statt dessen wartet man auf einen ganz beliebigen Abend.
Nur in den Katakomben der Innenstädte, in Tokios engen Bahnhofsgassen mit ihren Lichtern, Lampions und Laternen, oder in den streng duftenden Schunken der Hafenstadt Osaka, überall dort, wo sich Japan zum Feierabend trifft, sind die Menschen tatsächlich wahrhaftig, laut und ungestüm. Sie streiten, singen, grölen und feiern dabei ihre Feste, wie sie fallen. Georg Blume
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen