■ tageszeitungs-Roman, Teil V: Stille Nächte auf Tahiti von Albrecht Lampe
Erwin Schierhold und Gabriele Horstmann vereinbarten, die abendlichen Einkäufe am Ziegenmarkt gemeinsam zu tätigen und dann ein „Kaltgetränk“ zu sich zu nehmen. In undeutlichen Situationen neigte Schierhold zu befremdlich wirkenden Präzisierungen.
„Tahiti“, dachte er, als er die Filiale verließ. Gleichzeitig glaubte er wieder diesen Äthergeruch der Narkose in der Nase zu spüren.
Am Käsestand des Supermarkts sprachen die Verkäuferinnen über Matratzen, die sich so schnell durchliegen, „egal, was man macht!“ Schierhold fing einen belustigten Seitenblick von Gabriele Horstmann auf und konnte nichts sagen. Die Verkäuferinnen huschten hin und her, aus dem Lautsprecher drang eine sonore Stimme „Herr Bomhoff, bitte Flaschenkasse“, und alles schien in bester Ordnung.
Später saßen sie in einer Bar am Sielwall. Ihre Knie berührten sich bisweilen, der Kellner servierte mit wissendem Blick. Erwin Schierhold hatte Gabriele Horstmann gerade gefragt, ob sie jemals auf Tahiti war. Sie hatte verneint, das Gespräch geriet ins Stocken. Sozusagen ersatzweise legte er seine auf ihre Hand. Sein Herz klopfte mit ungesunden Sprüngen, wie ein Blitz schossen ihm die Worte „außerordentlicher Zinsertrag“ durch den Kopf und wollten nicht weichen. Gabriele Horstmann dachte an Tahiti und ließ ihre Hand, wo sie war.
Am anderen Morgen betrachtete sie den schlafenden Schierhold wie ein seltenes Phänomen. Sein Gesicht hatte nichts Filialleiterhaftes mehr, es war entspannt und zufrieden. Nicht einmal der silbrige Speichelfaden in seinem rechten Mundwinkel wirkte störend.
Später fand er neben der Kaffeekanne einen Zettel: „Schierling, Du bist Gift für mich, wir dürfen uns nicht wieder sehen. Gabriele.“ Schockiert kleckerte er den Kaffee quer durch die Küche.
Natürlich kam er zu spät in die Filiale. „War eben noch in der Zentrale“, murmelte er. Dann stand Ruth Horstkotte vor ihm. Ihre Augen glänzten unnatürlich, sie entschuldigte sich nochmals für ihr Fernbleiben. Er wußte, daß sie noch etwas hinzuzufügen hatte und hatte im Mundraum plötzlich einen Geschmack wie von Tränen.
„Herr Schierhold, hier ist ein Kunde, auf dessen Konto Bewegungen sind, die ich als eigentümlich und besorgniserregend beurteile. Ich bitte sie, den Kreditrahmen neu festzulegen.“ Mit flüchtigem Blick streifte er den Kundennamen, „Beckmann Hoch- und Tiefbau“, nie gehört.
Als sie sich umdrehte, sah er, daß sie hochhackige Schuhe trug. Der Volant um ihren Hals wirkte nicht so steif wie sonst und mit durch nichts zu rechtfertigendem Schmunzeln sah er an ihrem Hinterkopf eine plattgelegene Stelle in ihrem Haar, das sie größtenteils vergeblich darüber gekämmt hatte. „Ich kümmere mich darum“, sagte er. Der Arbeitsalltag war von enervierender Monotonie.
Frau Horstkotte klopfte spätnachmittags an die Tür des Filialleiters. „Was ist mit diesem Beckmann,“ fragte sie und blieb im Türrahmen stehen. Schierhold stand auf und reichte ihr die Papiere. „Der Kredit ist ab sofort gesperrt. Das Mahnverfahren ist sofort einzuleiten. Wer hat denn da so lange geschlafen?“
Ruth Horstkotte sagte mit zögerndem Lächeln: „Ich kenne diesen Beckmann. Mein Vater hat seinerzeit bei ihm als Kanalrohrverleger gearbeitet. Sie mußten oft auf den Lohn warten.“
Erwin Schierhold setzte sich auf die Schreibtischkante. Das hatte er noch nie getan. Ein Kugelschreiber fiel aus seinem Behältnis. „Frau Horstkotte“, sagte er und stockte plötzlich. Die Nacht mit Gabriele Horstmann hatte ihn in seinen Grundfesten erschüttert, mit unhörbarem Getöse bewegten sich die Lawinen frühkindlicher Vergreisung in seiner Seelenlandschaft. Würde sie ihm auch nichts ansehen?
Er versuchte es noch einmal. „Frau Horstkotte, ich habe Sie für die zentrale Kasse am Brill vorgeschlagen. Heute morgen. Das bedeutet Gehaltserhöhung und mehr, viel mehr Verantwortung. Das heißt aber auch, das wir nicht mehr zusammenarbeiten können. Aber, wissen Sie, nach Tahiti reist man besser getrennt. Guten Abend dann.“
Sie sah ihn veständnislos an und sagte nichts, nur drückte sie ihm die Hand etwas länger als sonst, etwa so, als wenn sie sich nach dem Urlaub mit Handschlag begrüßten. Erwin Schierhold hätte Ruth Horstkotte niemals einen Heiratsantrag gemacht, wenn sie noch in seiner Filiale gearbeitet hätte. Da war er konsequent.
So glücklich Ruth und Erwin Schierhold auch sein mochten in ihrer jungen Ehe, die nahe Vergangenheit ließ sie nicht los. Der Vater starb bald an den Folgen des Defekts seiner Bohrmaschine, Ruth mied seitdem den Campingstellplatz. Oft verklärte Wehmut ihre Züge, wenn sie ihren Ehemann bei seinen hilflos wirkenden Versuchen, häusliche Reparaturen auszuführen, beobachtete.
Erwin Schierhold dachte noch lange an Gabriele Horstmann. „Tahiti ist nicht nur ein Wort, schließlich war ich ja da. Ich werde meinem Kind sagen, wo Tahiti liegt. Wenn es groß genug ist.“
Er eröffnete seinem Kind, mit dem die geliebte Ruth im sechsten Monat schwanger ging, ein Sparbuch und zahlte fünf Mark wöchentlich ein, in der steten Hoffnung, daß es sich eventuelle Sehnsüchte zumindest auf materiell akzeptabler Grundlage erfüllen könne. Dann hatte er wieder diesen Geschmack von Tränen im Mund. Ende
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