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„Auf dich haben wir schon gewartet...“

Nach vierzehnmonatiger Haft in der Türkei ist Stefan Waldberg vor Weihnachten entlassen worden. Der Journalist war nach Türkisch-Kurdistan und in den Nordirak gereist. Über die Festnahme und Haftbedingungen sprach er mit  ■ Helmut Oberdiek

Wie in den Jahren zuvor reiste der jetzt 29jährige Stefan Waldberg für den Freiburger Radiosender „Dreyeckland“ im Herbst 1992 in die kurdisch besiedelten Teile der Türkei und des Irak. Im Nordirak kam er in ein Lager der Kurdischen Arbeiterpartei PKK. Am 4. Oktober begannen die Angriffe der türkischen Luftwaffe und kurdischer Miliz (Peschmergas). Er konnte die Lager zunächst nicht verlassen und trat die Rückreise an, als die Kämpfe abflauten. Am 23. Oktober wurde er am Grenzübergang „Habur“ von türkischer Polizei verhaftet und eine Woche lang unter Folter verhört. Der Brief eines Lagerkommandanten an Solidaritätsgruppen in Deutschland, den man bei ihm findet, wurde der Hauptbeweis für angebliche „Kurierdienste für die PKK“. Im Januar 1993 wurde er von einem Sondergericht zu 45 Monaten Haft verurteilt.

Das Urteil wurde in der Revision bestätigt. Waldberg wurde in ein Gefängnis im Westen der Türkei verlegt. Trotz internationaler Proteste finden die Diplomaten auf türkischer und deutscher Seite erst Ende 1993 die Lösung: Stefan Waldberg wird eine „chronische Psychose“ attestiert, und der Staatspräsident begnadigt ihn.

taz: Wie hast du die 14 Monate Haft mit Folter, Prügeln und Willkürjustiz verkraftet?

Stefan Waldberg: Dazu möchte ich sagen, daß ich bei der Verfolgung meiner Ziele, in meiner Einstellung gegen Kapitalismus und Imperialismus sehr konsequent bin. Gerade in der ersten Woche, als ich von der Außenwelt abgeschnitten und verschiedenen Formen von Psychofolter ausgesetzt war, habe ich mir immer wieder gesagt, daß ich nicht schlappmachen darf. Das hat mir die Kraft zum Durchhalten gegeben.

Du warst sechs Monate im Spezialgefängnis von Diyarbakir und acht Monate im Gefängnis in Buca (Izmir). Wie ist es dir dort ergangen?

In Diyarbakir habe ich mich unter den Gefangenen wie einer von ihnen gefühlt. Ich wurde dort voll akzeptiert und habe einen Teil der Veranstaltungen mitgemacht. Es wurden in jeder Zelle (das ist jeweils ein Trakt mit 80 bis 90 Gefangenen) Aufgaben verteilt. Ich war eine Zeitlang für das Vorbereiten des Frühstücks verantwortlich. Nur bei Anwaltsbesuchen traf ich mit politischen, kurdischen Gefangenen zusammen. An beiden Orten war meine anwaltliche Betreuung sehr gut. Als besonderes Privileg durften mich meine Eltern in Buca einmal die Woche anrufen. Da hierfür nur eine bestimmte Zeit vereinbart war, hat das aber nicht immer geklappt. Politische Diskussionen waren in Buca kaum möglich. Ich habe viel gelesen. Ich bekam auch deutsche Zeitungen, einschließlich Trotz und Arbeiterkampf. Das Essen war ziemlich schlecht. Es gab meistens Bohnen mit Reis oder Nudeln und kaum Abwechslung. Gegen Bezahlung konnte man köfte (Hackbällchen) dazukaufen. Ich durfte einmal am Tag Nachrichten auf RTL in deutsch sehen. Ich hatte ein Radio mit Weltempfänger, so daß ich über alles, was in der Welt passierte, informiert war.

Allgemein waren die Haftbedingungen in Buca besser, aber ich habe mich bei den politischen Gefangenen in Diyarbakir wohler gefühlt. Vor der Verlegung im April 1992 hat man mich nicht gefragt. Das wurde auf Wunsch der deutschen Botschaft so angeordnet. Ich wäre lieber in Diyarbakir geblieben. Ich denke, daß die Botschaft verhindern wollte, daß ich mich mit den politischen Gefangenen solidarisiere. Noch zum Schluß sollte meine Mutter dazu gebracht werden, mich zu überreden, nach meiner Entlassung nichts über das Geschehene zu sagen.

Von welcher Stelle hättest du mehr Unterstützung erwartet, und hat dich die Solidarität von anderer Seite vielleicht überrascht?

Ich fand es toll, daß die Solidarität die ganze Zeit angehalten hat. Immer wieder wurde in den Medien darüber berichtet. Das war in vergleichbaren Fällen nicht so.

Du sollst dich bei der Bundesregierung nicht für den „diplomatischen Erfolg“ bedankt haben. Warum?

Die BRD hat immer von einem „rechtsstaatlichen Verfahren“ gesprochen, obwohl bekannt war, daß ich vor einem Sondergericht im Ausnahmezustandsgebiet mit Militärrichter stand. Die verantwortlichen Stellen und Institutionen der BRD haben meines Erachtens viel zu spät reagiert und dem Druck des türkischen Regimes nichts entgegengesetzt. Bereits beim ersten Besuch des Dr. Heisch, Leiter der Rechtsabteilung der Botschaft in Ankara, am 19. 11. 1992 im Gefängnis in Silopi habe ich ihm detailliert meine Behandlung in Silopi, Sirnak und Cizre geschildert. Der Botschaftsvertreter hat meine Schilderung an das Auswärtige Amt als „starken psychischen Druck“ heruntergespielt. Derselbe Botschaftsvertreter hat nach meiner Verurteilung meiner Mutter gesagt, daß man nicht meinetwegen die Beziehungen zur Türkei aufs Spiel setzen wolle. Das heißt für mich soviel wie: Folterberichte aus der Türkei, auch von und an ausländischen Menschen, Journalisten, sind keine Hinderungsgründe für die weitere Unterstützung der BRD, für weitere Waffenlieferungen durch die BRD. – Nach dem Angriff des Militärkommandos am 9. Februar 1993 erhielten meine Mutter und der Freundeskreis von deutschen Behörden die Auskunft, ich sei davon nicht betroffen. Ich konnte dem CDU- Parlamentarier Stercken erst am 15. 2. 93 darüber berichten und wurde zwischenzeitlich nie von einem Konsularbeamten besucht. Stercken hat hingegen meinen Bericht heruntergespielt und mir empfohlen, daß ich das Ganze nicht „politisch hochziehen“ solle.

Wie waren deine Erfahrungen in den PKK-Lagern und während der türkischen Großoffensive?

In den Lagern habe ich in den Tagen vor den Kämpfen normale Aktivitäten beobachten können. Dazu gehörte die Ausbildung, medizinische Versorgung und das Anlegen von Wintervorräten. Ich schätze, daß 35 Prozent der Guerilleros Frauen sind (unter den aktiven Kämpfern etwa 10 Prozent). Zwischen Männern und Frauen gab es eine gleichberechtigte Arbeitsteilung.

Wie ist es dir bei den Angriffen der türkischen Armee im Verbund mit Peschmerga-Einheiten der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) ergangen?

Zunächst einmal gab es zwei große Gebiete, in denen sich die Angriffe konzentrierten, neben Haftanin noch Hakurk, an der iranisch-irakischen Grenze. In Hakurk fing die Offensive an. Die Guerilla hat für sichere Plätze gesorgt. In den Lagern gab es wenig Tote durch die Bombardierungen. Die Kämpfer waren auf die Hügel gegangen. Dort gab es wenig Schutz, und am Ende der ersten Woche sah ich die ersten Verletzten. Sie waren auf den Hügeln von Artillerie der Peschmerga und Bomben der türkischen Luftwaffe verletzt worden. – Ich kann sagen, daß es den Peschmerga und der türkischen Armee nicht gelungen ist, die Lager einzunehmen. Die PKK-Guerilla hat dafür einen wichtigen strategischen KDP-Posten eingenommen. Ich habe gehört, daß viele KDP-Kämpfer desertierten, ihre Stellungen verließen, und einige sind auch zur PKK übergelaufen. Anfang der zweiten Woche fand in Zakho eine Demonstration gegen den Bruderkrieg und gegen die Zusammenarbeit mit dem türkischen Regime statt. Zu den Verlusten machen alle Seiten unterschiedliche Angaben. Ich denke aber, daß die größeren Verluste auf seiten der KDP waren. Es sollen 1.000 bis 2.000 Peschmerga der KDP und 500 PKK-Guerillas gefallen sein. – Mein Rückflug war für den 16. Oktober gebucht. Der Kommandant befahl, daß ich in ein Dorf außerhalb von Zakho gebracht werden sollte. Mit drei Kämpfern trat ich den Rückweg am 22. Oktober an. Gegen Mittag brachen wir auf. Als es dunkel war, mußten wir über einen Geröllabhang zu dem Dorf, das circa drei Kilometer entfernt lag. Ungefähr nach einem Kilometer sahen wir, daß von der Straße nach Zakho mit Raketen auf uns geschossen wurde. Nach drei Stunden hatten wir die drei Kilometer zurückgelegt.

Das war aber noch nicht das Ende...

Nein, am nächsten Morgen um 5 Uhr hat mich ein Bauer mit einem Traktor an die Straße zwischen Batufa und Zakho gebracht. Dort hat mich ein anderer Bauer in seinem Kleinlaster mit Obst mitgenommen. Kurz vor dem Zentrum von Zakho war eine Straßenkontrolle, wo ich überprüft wurde. Ich habe eine halbe bis eine Stunde dort gestanden. In der Zeit haben sie über Funk die Zentrale informiert. Sie wollten nicht wissen, daß ich Journalist bin, und haben mich in ein Auto der KDP verfrachtet. Ich wurde an den Punkt gebracht, von wo wir in der Nacht beschossen worden waren. Es fand ein kurzes Telefongespräch statt, bei dem ich mehrfach das Wort „Habur“ verstand. Ich wurde zum Grenzübergang Habur gebracht, passierte die Kontrollen, bekam einen Einreisestempel und nahm mir ein Taxi, um nach Silopi zu fahren. Nach 100 Metern wurden wir von bewaffneten Zivilisten angehalten. Dann ging das ruckzuck. Einer sagte auf englisch: „Auf dich haben wir schon gewartet.“ Es ging in einen Raum, wo ich mich ausziehen mußte.

Warum hat der türkische Geheimdienst am 22. Oktober die Grenzstation informiert, daß „in den nächsten drei bis vier Tagen ein Deutscher die Grenze passieren wird, der Kurierdienste für die PKK macht“?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Entweder man hat uns gesehen, als wir die Berge verließen, und Meldung an die türkische Seite gemacht. Oder es sind Funksprüche aus den Lagern abgehört und so interpretiert worden. Es wäre auch möglich, daß Agenten in der PKK eine solche Information weitergegeben haben, aber das halte ich für unwahrscheinlich.

Wie war deine Behandlung in der Haft?

Von Habur wurde ich unter Fußtritten, mit verbundenen Augen und gefesselten Händen in eine Kaserne bei Silopi verschleppt. Bereits dort wurde ich als PKK-Agent beschuldigt. Ich wurde an den Haaren gerissen und bespuckt. Danach wurde ich in die Zelle einer Polizeistation gebracht. Mir wurde zum ersten Mal die Augenbinde entfernt. Meine Brille wurde mir abgenommen, ich bekam keine Decke und mußte auf dem nackten und feuchten Betonboden schlafen. – Bis zum Abend des nächsten Tages bekam ich nichts zu essen und durfte nicht zur Toilette gehen. Am 25. 10. wurde ich in einem Panzer nach Sirnak in die Brigadestation gebracht. Auf dem Weg dorthin wurde bei einer Kaserne angehalten. Ich mußte mich an eine Wand stellen und wurde in perfektem Deutsch angebrüllt, daß ich erschossen werde. Gewehre wurden durchgeladen. Fast besinnungslos, wurde ich auf deutsch angebrüllt, ich solle endlich die Wahrheit sagen. – Kurz nach der Scheinexekution wurde ich unter heftigen Fußtritten wieder in den Panzer gestoßen. In der Brigadestation Sirnak mußte ich mich wieder nackt ausziehen. Ich wurde von circa fünf Männern umringt, heftig geschlagen, bespuckt und brutalst herumgestoßen. Nach dieser Tortur wurde ich in eine Einzelzelle geworfen. DieZelle war circa zwei Meter lang, höchstens einen Meter breit und völlig dunkel. Man konnte darin nicht stehen. In dieser Zelle wurde ich zwei Tage in Einzelhaft gehalten. Vor der Zelle lief Tag und Nacht ein Kassettenrecorder in voller Lautstärke. Nachts wurde in unregelmäßigen Abständen an die Zellentür getreten; alle zwei Stunden stürmte ein Mann mit Knüppel in die Zelle und befahl: „Stand up, sit down!“ Am 26. 10. wurde ich morgens mit verbundenen Augen zu einem drei- bis vierstündigen Verhör geholt. Man fragte mich unter anderem, wie ich in die Lager der PKK rein- und rauskam, mit welchen Leuten ich Kontakt hatte, zu Kontakten in der BRD und wer mich finanziell unterstütze. Nachmittags wurde das Verhör weitergeführt. Hierbei machte ich Angaben über meine journalistische Arbeit bei Radio Dreyeckland. Bei beiden Verhören sollte ich durch Schläge eingeschüchtert werden. – Abends wurde ich in einen anderen Raum gebracht. Nach wenigen Minuten hörte ich aus dem Nebenraum entsetzliche Schreie. Es waren die Schreie gefolterter Gefangener. Die ganze Nacht mußte ich mir die Schmerzensschreie anhören. Ich mußte mich mehrmals übergeben. Öfters kam eine Person in den Raum und machte mir klar, ich solle endlich die Wahrheit sagen, sonst würde ich das gleiche mitmachen. Ich war am Ende meiner Kräfte, nahe vorm Kollaps.

Am 27. 10. wurde mir gesagt, daß ich zu einer Untersuchung müsse. An der Tür konnte ich ein Schild mit der Aufschrift „Doktor“ erkennen. Man stieß mich mit Fußtritten in den Raum. Es war eine Folterkammer. Auf dem Boden lag überall bläuliches Salz, in einer Ecke befanden sich zwei übereinandergelegte Autoreifen, und in unmittelbarer Nähe einer Wand stand ein ungefähr drei Meter hohes Holzgerüst. An den Querbalken hingen rechts und links Seilschlaufen. Die Foltermethode ist als Palästinahaken bekannt. In einer anderen Ecke sah ich Stromkabel und Elektroden. Erneut mußte ich mich nackt ausziehen, und mir wurden Folterungen angedroht. Währenddessen wurde eine Nebentür des Folterraums geöffnet. Ich sah etwa 20 abgemagerte, frierende Gefangene, deren Augen verbunden waren, nur mit Unterhosen bekleidet, dicht zusammengedrängt in Hockstellung auf dem Boden.

In Diyarbakir traf ich einige Gefangene, die ebenfalls in der Brigadestation Sirnak inhaftiert waren. Sie alle waren zwischen 10 und 30 Tage verhört und täglich gefoltert worden.

Bei dem Verhör in Cizre am 27. 10. erklärte mir ein Mann, daß ich auf einer Polizeiwache sei. Er machte mir in akzentfreiem Deutsch deutlich, daß das meine letzte Station sei. Man habe mir bisher kein Wort geglaubt. Dies sei meine letzte Chance, lebend herauszukommen. Am 28. 10. wurde ich wieder nach Silopi gebracht. Am 29. 10. wurde ich einem Haftrichter vorgeführt. Ein Soldat, der völlig unzureichend Deutsch sprach, wurde als Dolmetscher von der Straße geholt. Die Fragen des Haftrichters konnte ich wegen der miserablen Übersetzung kaum verstehen. Ich stellte auch hier wieder klar, daß ich Journalist bin. Wie ich später in Diyarbakir von meinem Rechtsanwalt erfahren mußte, wurde diese Aussage gefälscht. Zusammen mit anderen Gefangenen war ich einen Monat im Militärgefängnis von Silopi inhaftiert.

Im Militärgefängnis von Diyarbakir waren insgesamt 1.200 Gefangene. Die 800 politischen Gefangenen waren auf 13 Großzellen verteilt. Im März 1993 waren die Zellen total überfüllt, so daß einige im Treppenaufgang schlafen mußten.

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