: Dialektik von Zwang und Entfaltung nutzen
■ Kampnagel: „Stand der Dinge“ zur Zukunft freier Theaterarbeit / Droht Freien der Super-Gau? für Hamburgs Gruppen?
Kampnagel steht an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Nach den wilden Kinderjahren vor über zehn Jahren, der Pubertät unter Hannah Hurtzig und Mücke Quinckhardt und der Adoleszenzphase mit Hans Man in't Veld steht dem Gelände neben der Jarrestadt jetzt die Reifeprüfung bevor. Denn Res Bosshart, der als neuer künstlerischer Leiter ab der nächsten Spielzeit die Geschicke des Hallenkomplexes in seinen Händen hält, erwarten inhaltlich wie geschäftlich weit höhere Herausforderungen, als alle seine Vorgänger. Er muß zum einen mit den beschränkten Subventionsmitteln, die Kampnagel zustehen, die Attraktivität mit einem eigenen Profil deutlich erhöhen. Denn unter dem zunehmenden Finanzdruck werden die Legitimationsfragen rechter Sozialdemokraten gegenüber Kampnagel sicherlich nicht geringer werden. Ob ihm die neue inhaltliche Konkurrenz durch Frank Baumbauers Schauspielhaus dabei hilft oder behindert, muß sich erst noch beweisen. Gleichzeitig segelt er direkt in das Spargewitter, das spätestens ab 1995 auch den Hamburger Kulturetat voll erwischen wird und dessen erste Auswirkungen sich schon jetzt für Kampnagel deutlich abzeichnen.
Harte Zeiten für Freie
Die Rede ist von den Subventionen für die Freien Produzenten, deren Schicksal mit Kampnagel als ihrem Hauptauftrittsort eng verbunden ist. Die finanzielle Situation dieser Theatermacher war eigentlich immer unwürdig, wird aber für einige durch die vom Senat beschlossenen Bewirtschaftungsmaßnahmen eventuell prekär. Die Subventionsmenge betrug bisher 500.000 Mark für die circa hundert freien Produzenten, die in Hamburg arbeiten. Wie lächerlich diese Summe ist, wird dann offenbar, wenn man sieht, daß eine normale Theaterproduktion auf Kampnagel zwischen 70.000 und 100.000 Mark kostet, und zwar bei Bedingungen, die Staatsschauspieler höchstens aus ihren Alpträumen kennen.
Monatsgagen von 1500 Mark brutto sind die Regel, Bühne und Ausstattung müssen auf ein Minimum reduziert werden und gelingen oft nur durch endlose Improvisation und jeder der Beteiligten arbeitet multifunktional. Regie, Produktionsleitung, Organisation bis zur Werbung und Ausstattungsleitung liegen meistens in einer Hand und viele Schauspieler arbeiten unter der Armutsgrenze, um ihr Theater entwickeln zu können.Hatte die Kulturbehörde den Titel „Freie Gruppen“ für 1994 wenigstens um 200.000 Mark aufgestockt, so wird durch die jetzt beschlossene Einfrierung von 25 Prozent der Ausgaben auf der Basis des 93er Haushaltes der ursprüngliche Zustand noch verschlimmert. Alle Gruppen, die für '94 Geld erhalten sollen, bekommen bis zur abschließenden Haushaltsberatung im Sommer lediglich 75 Prozent der ihnen zugestandenen Subventionen ausgezahlt. Da die Anträge der Gruppen aus Angst vor Ablehnung sowieso extrem eng kalkuliert sind, kann das für viele Projekte das „Aus“ bedeuten. Der Super-Gau für Freies Theater bahnt sich hier an.
Was die erbärmliche Unterstützung der Freien Szene konkret bedeutet, läßt sich auch anhand des Programmes des Werkforums „Vom freien Fall zum Stand der Dinge“, das bis zum 30. Januar auf Kampnagel stattfindet, ersehen. Von den fünf dort gezeigten Hamburger Produktionen können zwei Produktionen mangels Mitteln dieses Jahr überhaupt nicht (Babylon, Lubricat), zwei weitere nur dann gefördert werden, wenn die Hamburger Bürgerschaft im Juni der Etaterhöhung für freie Gruppen zustimmt (Theater Leutstetten, Max Eipp). Lediglich Gabriella Bußacker kann nächstes Jahr mit Subventionen rechnen, erhielt allerdings letztes Jahr keine Unterstützung.
Nötige Diskussionen
Doch nicht nur das Überlebensproblem, das durch die bedrohliche finanzielle Zukunft neues Gewicht erhält, soll im Zentrum der Diskussion des Werkforums stehen, das sich „als Dach über die ganze verbleibende Spielzeit wölben soll“, so Michael Batz, Kampnagel-Dramaturg. Inhaltliche, durchaus auch selbstkritische Debatten sind ebenso verlangt wie die Suche nach neuen Möglichkeiten der Zusammenarbeit, um freie Theaterprojekte zu realisieren. „Warum sollten die freien Produzenten nicht mit Schauspielern der Staatstheater arbeiten, die gerade in keiner Produktion stecken“, schlägt Batz etwa vor: „Das könnte für beide Seiten befruchtend sein und würde zudem viel Geld sparen.“ Man könne sich als freier Theatermacher jetzt nicht ins Kummereckchen verkriechen, sondern müßte sehen, wie man in Zusammenarbeit die vorhandenen Ressourcen besser nutzt.
Zu diesem Themenkreis wird es während des Werkforums zwei prominent besetzte Podien geben. Am 16. Januar diskutieren Theatermacher (u.a.: Eva-Maria Martin, Gabriella Bußacker und Ludger Schneider) die Frage „Welche ästhetische und politische Eigenständigkeit hat freies Theater heute?“. Zwei Wochen später versammeln sich Theaterleiter aus der ganzen Bundesrepublik (u.a. vom Mousonturm Frankfurt, Theaterhaus Stuttgart und der Berliner Veranstaltungs GmbH), um zu klären, „Wie läßt sich Produktivität in Zukunft organisieren?“ Ein drittes Forum am 23. Januar versammelt die Kulturchefinnen aus Hamburg (Christina Weiss), Bremen (Helga Trüpel) und Niedersachen (Helga Schuchardt) sowie die Theaterleiter Tom Stromberg (TAT, Frankfurt), Frank Baumbauer und Res Bosshart zu einer Grundsatzdebatte über „Neues Denken in der Kulturpolitik?“.
Die immanente Bedeutung dieser Fragestellungen unterstreicht Batz mit der Erfahrung, daß in der gesamten deutschen Theaterszene momentan eigentlich niemand wirklich weiß, wie es weitergehen soll. Theaterschließungen, Todschrumpfung, Panikstreichungen und eklatante Niveauverluste erwarten alle Beteiligten, aber Auswege und perspektivische Konzepte sind absolute Mangelware.
Den Dialog aufnehmen
Doch auch über die Identität des Geländes an sich müsse man sich dringend Gedanken machen, denn, so Batz: „Kampnagel riecht nicht mehr frisch.“ Es würden zu wenig „grundsätzliche Behauptungen aufgestellt“ und lieber nette Geschichten erzählt, als nach „dem Zentrum der Sprache und des Theaters“ gesucht. Aus langjähriger Erfahrung mit dem Gelände und dem Gefühl, daß der „Dialog von Kampnagel mit der Stadt, dem Publikum und sich selbst“ vielfach abgerissen sei, findet Batz die Tugenden für ein neues Kampnagel mehr in den Anfangsjahren: „Wer sich auf Kampnagel einlassen will, der sollte zu Extremen bereit sein .“
Drei Gastspiele und fünf „exemplarische“ Hamburger Produktionen können vielleicht den Stoff bieten, über den man spricht. Heute abend zeigt das Theater Leutstetten seine Komödie Bertha, die Gruppe Lubricat stellt Dienstag Red, Blue and Yellow vor. Max Eipps Giftmörderinnen (21./22.), Gabriella Bußackers neue Produktion Rauschen (27.-30.) und Werner Schwabs (Gott hab ihn selig) Erstlingswerk Die Präsidentinnen von der Gruppe Babylon (29./30.) vervollständigen die Hamburger Runde. George Taboris My Mother's Courage vom Tübinger Zelt Ensemble Theater (20./21.), Passion vom Dresdner Statt-Theater Fassungslos (23.) und Ein Stück vom Paradies vom Teatr Kreatur (26.) hat Batz dazu eingeladen, weil er sie für Arbeiten der besten freien Ensembles hält, die in Deutschland arbeiten. Till Briegleb
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