: "Ich will nicht weg aus Marzahn"
■ Die Plattenbausiedlung ist fünfzehn Jahre alt geworden / Der Großteil der 165.000 EinwohnerInnen fühlt sich wohl in Deutschlands größtem Neubaugebiet
Auf dem Kopfsteinpflaster dampfen Pferdeäpfel. Die Stille auf dem Dorfanger mit der Kirche in märkischer Backsteingotik und den renovierten Bauernhäusern wird nur von Vogelgezwitscher und dem fernen Rattern der S- Bahn unterbrochen. Willi Mielenz hebt seinen Krückstock in die Luft und grüßt einen Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite. „Das ist der ehemalige Besitzer der Treibhäuser“, erzählt der Schwerbeschädigte und stützt sich auf seinen Gehstock. „Der wurde damals enteignet.“ Mielenz blickt dem Bauern, der schon lange keiner mehr ist, hinterher, bis er hinter einem großen Holztor nahe der Kirche verschwunden ist.
Die dörfliche Idylle trügt. Die Kirche aus dem Jahre 1870 wird haushoch überragt von bis zu sechzehn Stockwerk hohen Wohnblöcken. Mielenz, der mit seinen 81 Jahren zu den fünf Prozent der Marzahner gehört, die älter als 65 sind, wohnt in Deutschlands größtem Neubaugebiet. Die Betonsilos entlang der Allee der Kosmonauten, der Poelchaustraße und der Landsberger Allee kreisen den 1980 rekonstruierten Dorfkern von Alt-Marzahn mit Weiden, Bauernhäusern, Dorfmuseum, Bibliothek und Kleintierhof ein.
Vor vierzehn Jahren wurde dem kriegsgeschädigten Mielenz die Wohnung ganz unbürokratisch zugewiesen. „So eine Wohnung haben wir als Kinder nie kennengelernt“, beschreibt er den ungewohnten Luxus einer Wohnung mit Zentralheizung und Bad. Es fiel ihm damals sehr schwer, aus der Wohnung in Friedrichshain auszuziehen. „In der Samariterstraße bin ich geboren und großgeworden, ich wollte da nicht raus.“ An den Rollstuhl gefesselt, mußte er untätig mit ansehen, wie sich seine Frau allein durch den Schlamm kämpfte. „Die erste Zeit hat uns gar nicht gefallen. Da war nur Lehm und Dreck. Ich habe zu Hause gesessen und gewartet, bis Muttchen mit ihren Schlammschuhen zurückkam, die ich dann in der Badewanne saubergemacht habe. Ich mit meinem Rollstuhl konnte ja nicht raus.“ Seit einigen Jahren kann Mielenz mit einem Krückstock wieder laufen. Wo man früher bis zum Knöchel im Schlamm versank, wachsen jetzt Bäume und Sträucher. Seit „Muttchen“ tot ist, geht Mielenz alleine spazieren. „Wir haben uns immer an der Kirche erfreut. Frauchen und ich haben uns hier wohl gefühlt. Jetzt bin ich alleine und fühle mich auch wohl.“ Das letzte Mal war er vor drei Jahren in Friedrichshain, beim orthopädischen Schuhmacher. Jetzt, da er genug orthopädische Schuhe hat, gibt es keinen Grund mehr, hinzufahren: „Ich will nicht mehr weg aus Marzahn“.
Auch der 53jährige Hallenser Horst Sonntag*, der seit 12 Jahren in Marzahn lebt, fühlt sich „so richtig zu Hause“ in der Plattenbausiedlung. Seit seiner Scheidung vor drei Jahren lebt er alleine. Bei einem Bier nach der Arbeit an einem Kiosk an der Allee der Kosmonauten erzählt er, warum er nichts in Marzahn vermißt, auch wenn das kulturelle und gastronomische Angebot den Bedarf der 165.000 Marzahner bei weitem nicht befriedigen kann. „Wenn man wie ich morgens um vier Uhr aufstehen muß, geht man zeitig ins Bett. Nach der Arbeit gehe ich meistens zum Imbiß. Zu den Nachbarn habe ich kaum Kontakt. Und an den Wochenenden sitze ich fast nur vorm Fernseher. Wozu sollte ich in andere Stadtteile fahren?“ Trotz der Anonymität der Plattenbausiedlung möchte er keinesfalls in einen anderen Stadtteil wechseln. „Damals waren doch alle froh, daß Marzahn gebaut wurde. Und ich bin froh, daß ich hier bin und meine Miete bezahlen kann.“
Und die jungen MarzahnerInnen, die 20 bis 45jährigen, die fast die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, wie ertragen sie die kulturelle Ödnis mit einem Kino, zwei Hallenbädern und dem Freizeitforum, wo man den Besuch der Bowlingbahn lange im voraus buchen muß? Für die 21jährige Kathrin, die eine Umschulung zur Kauffrau macht, steht eindeutig fest: „Neubau ist schöner als Altbau, heller und nicht so teuer.“ Und in der Freizeit? „Kannste vergessen!“ Sie nimmt eine Stunde Fahrt in Kauf, um zum Bahnhof Zoo zu fahren und dort Discos zu besuchen. Gelassen erträgt sie die Betoneinöde: „Man gewöhnt sich an den Mist.“
Auch die drei 14jährigen Schüler, die auf die S-Bahn warten und in einem Neubaugebiet wohnen, in dem nur 15 Prozent der Gesamtfläche aus Grünflächen, Wald- und Wassergebieten bestehen, wundern sich über die Fragen nach dem Wohl- und Zuhausefühlen. Sie wurden in Marzahn geboren und verkünden unisono: „Wir vermissen hier nichts! Nach der Schule gehen wir auf der Marzahner Promenade spazieren und gucken Schaufenster an.“ Die S-Bahn fährt ab. Zurück bleibt ein Spruch in großen Lettern auf einem Gasrohr: „Don't worry – take Gysi.“ Bei den Bezirksverordnetenwahlen 1992 gaben 34,9 Prozent der MarzahnerInnen ihre Stimme der PDS. Barbara Bollwahn
Das Heimatmuseum sucht Arbeiter, die Marzahn mit aufgebaut haben. Nähere Infos unter 542 40 53, Frau Ifland
*Name geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen