piwik no script img

Leerer Stein, kaputtes Land

■ Hohlraumallegorie: Der zweite Roman des Schweizers Urs Richle

Kann das gut enden, wenn es am Anfang schon an die Tür klopft? Man weiß ja, wie es Kafkas armem Joseph K. erging. „Hätte ich gewußt, was mich erwartete, ich hätte nicht noch einmal aufgemacht. Aber wie man eben die Tür aufmacht, wenn es klopft, machte ich die Tür auf“, heißt es auf der ersten Seite von „Mall oder das Verschwinden der Berge“, dem zweiten Roman des jungen Deutsch- Schweizers Urs Richle. Und es kommt, wie es kommen muß: „Es waren sechs Männer, die mich leicht zögerlich grüßten und forschend anschauten. Im ersten Augenblick wußte ich nicht recht, was ich mit ihnen anfangen sollte. Einer von ihnen gab mir die Hand, sagte, daß er Arzt sei, und stellte mir ein paar Fragen, auf die ich nicht sofort eine Antwort fand. Wahrscheinlich hatte ich sie nicht richtig verstanden.“ Sicher ist er sich nicht, Ulrich Hörmann, der Erzähler; sicher ist nur, was nach seinem Gang zur Tür geschieht: Man nimmt ihn mit.

Doch Ulrich H. ist nicht Joseph K. Er hat das Schlimmste hinter sich. Seine Geschichte (er erzählt sie als ein gescheiterter Selbstmörder in einer Heilanstalt) ist die einer Suche nach einer Geschichte. Zunächst forscht er nach seiner eigenen. Der Arzt, schreibt er, sagt, „ich hätte mich über Wochen nicht mehr gewaschen und mein Haar habe sich zu verfilzen begonnen. Ich sei über Wochen kaum mehr aus dem Haus gegangen, hätte kaum mehr Spaziergänge gemacht.“ Ulrich zitiert die Diagnose einer Erstarrung: indirekte Rede über sich selbst, der Konjunktiv als Modus tastenden Erinnerns. Erst nach und nach gibt er mehr von sich preis. Er ist, er war ein junger Krankenpfleger in Zürich; sein letzter Patient starb ihm in den Armen, der gewesene Bergwerksingenieur Carl Mall, 87 Jahre.

Das ist am Anfang. Ulrich erzählt ihn am Ende des Buches, ruhiger, sicherer jetzt, im Indikativ. Mall ist ganz Erinnerung, Vergangenes. Immer neu erlebt er seine Arbeit im Berg. Und Ulrich spielt mit, empfängt sinnlose Order, meldet folgsam Vollzug. In diesem halbbewußten Leben unter Tage im Krankenzimmer lernt er Malls Welt kennen wie von innen. Das Bergwerk, der Erzabbau, das Hangende, die Stollenhunde und die Bohrmaschinen der Mineure: Malls Erinnerung ist ein Museum des Handelns, ein Ort der Toten. Aber Mall ist ganz lebendig in dem, was er verschweigt: „Mall mit bleichem Gesicht. Er schaut mich an. Herr Mall, haben Sie 1942 an Deutschland Eisenerz geliefert?“ fragt Ulrich. Doch Mall, mit „pfeilgeradem Rücken und erhobenem Haupt“, Mall schweigt. Weil er weiß, worüber er schweigt. Das ist das „Schweigen eines Landes über eine Zeit, die ich nicht erlebt habe“, das kollektiv Verdrängte eines Landes ohne Seele.

Ganz klar wird nicht, ob Ulrich dieses Schweigens wegen verzweifelt. Nach Malls Ende geht er in die Berge, quartiert sich ein in einem Kaff am Fuße des Gonzen, jenes Berges, den Mall aushöhlte. Wochenlang umkreist er den Fels, statt ihn, wie geplant, zu besteigen. Im Berg sucht er Malls Geschichte. Dabei geht er sich selber verloren und verwildert, ein umgedrehter Kaspar Hauser. Warum, das bleibt ziemlich im dunkeln. So psychologisch Ulrichs Aussteigen daherkommt, so unergründet bleibt es. Wollte er sich wirklich umbringen? Und wieso, und was war vor Mall? Richle sagt wenig darüber, und Genaues weiß niemand.

Ulrichs Geschichte verläuft nach bekannten Mustern: Der junge Verstörte als schwermütiger Schmerzensmann, der Berg als Symbol der gewaltigen Aufgabe, der Alte in der Agonie, die Suche nach der Geschichte – alles Topoi, wie sie in Büchern stehen, ästhetisches Material auch eines konventionellen Erzählens. Aber Richles Ulrich spricht anders als andere: sehr klar und ruhig, ohne Getue, wesentlich wie seine Themen. Die erzählte Welt ist die ernster Leute, nichts fürchtet Ulrich mehr als das Gelächter der Dörfler. Im Gonzen liegt Malls Vergangenheit; metonymisch steht der Berg für die trügerische Geschichte der Schweiz. Das ganze Geschehen erscheint so als Allegorie der verstörenden Macht der Verdrängung. Doch dem Erzähler wird der hohle Berg an sich zur Metapher der Geschichte, ein Symbol mit mystischer Gewalt jenseits aller Psychologie. Mall ist der Berg, der Berg die Schweiz, ein leerer Stein. Dem Sterbenden zerfällt alles: „So ist auch meine Geschichte, sagt er, zersetzen und wieder zusammensetzen. (...) Die Wahrnehmung zerhackt Verbundenes, die Phantasie verbindet Zerhacktes.“ Erzählend sucht Ulrich in den Trümmern das Ganze, schweigend zerlegt Mall seine Geschichte im Sterben wie im Leben den Berg. „Das machte mir das Verstehen vollständig unmöglich“, sagt Ulrich. Der Tod am Ende, am Anfang der Konjunktiv. Ein kaputtes Land. Hans-Joachim Neubauer

Urs Richle: „Mall oder Das Verschwinden der Berge“. Roman. Verlag Mathias Gatza, 183 Seiten, geb., 38 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen