: Der Traum der hohen Geigen
■ John Elliot Gardiner entzückt das Publikum mit Strawinsky und Mahler
So wie sich der junge Strawinsky in der Orchestersuite Der Feuervogel vom 19. Jahrhundert löst, so hat sich John Eliot Gardiner in seiner Arbeit mit den Sinfonikern des Norddeutschen Rundfunks endgültig vom - sowieso kaum je berechtigten - Image des Originalklangspezialisten und Kopf-Musikers gelöst: Erfolgreich.
Dabei kommt Hamburgs Konzertpublikum in den Genuß einer hierorts nicht eben sehr üblichen Interessantheit der Programme. Griff er mit Ur- und Erstaufführungen der französischen Freunde aus seiner Lyoner Zeit etwas zu weit und erstmals daneben, hatten wir danach mit einem pfiffig-klassischen Weill-Programm das Vergnügen. Freitag und Sonnabend präsentierte er nun Strawinsky als modernen Klassiker, den zu hören eine Ohrenweide ist.
Hingegeben an die noch wagner- und debussynahe Koloristik der Feuervogel-Sphäre ließ Gardiner die NDR-Musiker in duftig lasiertem Wohlklang schwelgen. Im Höllentanz zeigten sie erlesen präzise Orchesterarbeit, ließen Strawinskys ekstatische Rhythmik kunstvoll zerspringen.
Nach der Pause war in Mahlers Vierter Sinfonie romantsiche Hingerissenheit aufs Raffinierteste gepaart mit Spielwitz und Können. Feinstes Rubato machte alle Übergänge von Kammer- in Orchestermusik vice versa plausibel. Weder klassizistisch kalt, noch romantizistisch wabernd, entfaltete sich da Mahlers Kosmos. Gardiner wechselte alle Jenseits-Visionen in klingende Münze das Heute und ließ die Puppen auf zerfallende Walzer fallen. Wobei heiliger Boden heilig blieb. Die hohen Geigen zu Beginn des Adagios klangen wie der Traum der hohen Geigen von den hohen Geigen.
Und Barbara Bonney mit ihrem mädchenhaft sparsamen Vibrato, ihrer an den richtigen Stellen steigerungsfähigen schönen Stimme setzte allem Streichergesang, der die Sinfonie hindurch überall lau ert, jenen hellen Dämmer auf, den wir im Lied der Erde dann so lieben. In den Hörnern schimmern hinten ewig die Berge, das Orchester kommt am Schluß zur Ruh wie für immer.
Die lange Stille nach dem letzten Ton, bevor der Beifall losging, sie sagte mehr als dreitausend dieser dusseligen Bravos.
Stefan Siegert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen