: Ganz ohne gewisse Zweifel
■ Derek Jarmans Film über den Philosophen Ludwig Wittgenstein
Daß der 1993 vor „Blue“ gedrehte Film erst jetzt in die Kinos kommt, verdankt sich den verschlungenen Wegen der europäischen Vertriebsförderung.(d.Red.)
Der in Wien geborene Ludwig Wittgenstein, der 1951 in Cambridge starb, arbeitete zuletzt an einem Text mit Namen „Über Gewißheit“. Im Zweifel, jener eigentlichen Sphäre der Philosophie – die er als solche neu zu etablieren half –, hat er sich nie heimisch gefühlt, und am Schluß seines Lebens brachte er die Philosophie (nach dem „Tractatus“) zum zweiten Mal an ihren Schluß: Um dem Zweifel zu entkommen, suchte er dessen inneres Ende. Dieses Ende, das privat möglicherweise im Glauben oder anderen metaphysischen Überzeugungen liegt (über die nach Wittgenstein nicht zu philosophieren möglich ist), läßt sich logisch (also in philosophisch zulässiger Form) lediglich negativ bestimmen: „Ein Zweifel ohne Ende ist nicht einmal ein Zweifel.“ Denn auch der Zweifel ist nur eine gedankliche Praxis, die ihrerseits auf Gewißheiten beruht: „Zweifelndes und nichtzweifelndes Benehmen. Es gibt das erste nur, wenn es das zweite gibt.“
Ludwig Wittgenstein starb an Prostatakrebs: eine auffallend symmetrische Erkrankung für einen Homosexuellen, dessen Selbstverhältnis von einzigartiger Feindseligkeit und Strenge war und dessen Absicht, sich zu verbergen, eine Ausdrucksform von Dünkel und Demut zugleich zu sein schien. Es ist wenig erstaunlich, daß Ludwig Wittgensteins Werk und Person eine so große Anziehungskraft ausüben: Wie ein gewendeter Einstein wurde er als negatives Genie betrachtet, als ein großer, depressiver Einzelner, der ein solitäres Werk schuf, das seine Kollegen eher verehrten (oder verachteten) als verstanden, und der so exzentrisch und scheu war wie Zeitgenosse Einstein exzentrisch und öffentlichkeitsbewußt. Wittgenstein verschenkte sein immenses Vermögen noch als junger Mann an seine Geschwister und machte sich damit zeitlebens von der Gnade akademischer Stipendien und Lehraufträge abhängig; er ging als Volksschullehrer in die österreichischen Bergprovinzen, um seinen Geist zugleich zu klären und zu demütigen, er radikalisierte den Zweifel als Methode, um dessen Ende zu finden – und dies sind nur ausgewählte Antagonismen im Leben dieses Philosophen, der naturgemäß eine breite Spur biographisch orientierter Literatur nach sich zieht.
Der ist nun ein Film hinzuzufügen: Der Regisseur und Drehbuch- Mitautor Derek Jarman hat sich offenbar am stärksten an der 1990 erschienenen Wittgenstein-Biographie von Ray Monk orientiert – und gut daran getan. Sein Film ist in allen wesentlichen – und heiklen – Aspekten des Lebens von Wittgenstein einfühlsam, fair und gerecht; die großen Ambivalenzen des Philosophen – seine depressive Brutalität, seine hochmütige gesellschaftliche Scheu, seine zur Selbstbestrafung neigende Homosexualität, seine gleichermaßen leidenschaftlichen Neigungen zu Logik und Religiosität – stellt er mit respektvoller Distanz und nicht verzerrend dar. In eher marginalen Aspekten, beispielsweise Wittgensteins Verhältnis zu seiner Familie, ist der Film weniger genau, aber er zielt auch offenbar auf nichts weniger ab denn auf Totalität: Eine am Theater geschulte, symbolische Ästhetik (in der typisiert kostümierte Figuren in Schwarz agieren, von Lichtkegeln hervorgehoben) und der Verzicht auf atmosphärische Realismen ergeben ein modernes Märchen, das auf Kenntnis, Auswahl, Distanz und übertreibendem Witz beruht. Dieser Verzicht auf schmachtende Identifikation bewahrt Jarman vor den klassischen Tücken des biographisch erzählenden Genres und wird einzig – und gelungen – konterkariert von der Besetzung der Hauptfigur mit Karl Johnson, der Wittgenstein physiognomisch unglaublich ähnelt und ihn hervorragend spielt (und der, wo er nicht ganz wie Wittgenst erinnert, was auch sehr hübsch paßt). Daß man von Wittgensteins Philosophie nur weniges, wenn überhaupt, durch diesen Film begreift, ist ihm nicht weiter vorzuwerfen: Jarman wollte nicht Nachhilfe geben, sondern eine ironische Hommage filmen. Wittgenstein, der ein leidenschaftlicher Kinogänger war (und da Western und Musicals bevorzugte), hätte, bei aller Autoaggression, mit diesem Vorhaben von geradzu frecher Evidenz vielleicht sympathisiert: „Daß das Leben problematisch ist“, notierte der 48jährige, „heißt, daß Dein Leben nicht in die Form des Lebens paßt. Du mußt dann Dein Leben verändern, und paßt es in die Form, dann verschwindet das Problematische.“ ES
„Wittgenstein“. Regie: Derek Jarman. Buch: Derek Jarman, Terry Eagleton, Ken Butler. GB 1993, 71 Minuten.
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