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■ Es gibt Wege aus der BeschäftigungskriseBlockaden aufbrechen

Dem Problembewußtsein eines großen Teils der Beschäftigten und insbesondere der Arbeitslosen entspricht das rituelle Tarifgeschäft der vergangenen Jahre schon lange nicht mehr. Die gerade im Auftrag von Peter Grottian erstellte Forsa-Umfrage bietet dafür einen neuen Beleg. Während 42 Prozent der Mitarbeiter im öffentlichen Dienst und sogar 46 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder für die mittleren und höheren Einkommen einen Tausch von Arbeitszeit gegen Lohn befürworten – nur die unteren Gehaltsgruppen sollen einen Inflationsausgleich von vier Prozent erhalten –, trifft die ÖTV-Forderung nach vierprozentiger Lohnerhöhung für alle auf die Zustimmung von nur 32 Prozent der Staatsbediensteten.

Die positive Resonanz auf das bahnbrechende Viertagemodell bei VW und die Akzeptanz der Bergleute an der Ruhr für eine ähnliche Regelung zeigen, daß der für viele sehr massiv spürbare Lohnverzicht als kleineres Übel hingenommen wird, wenn damit die Sicherung von sonst wegfallenden Arbeitsplätzen oder die Neueinstellung von Arbeitslosen verbunden ist. Bei über vier Millionen Arbeitslosen – tatsächlich suchen mindestens sechs Millionen einen bezahlten Job – kommt der weiteren Arbeitszeitverkürzung bei gleichzeitigem Lohnverzicht trotz des Geschwätzes vom Freizeitpark Deutschland eine wesentliche Bedeutung zu. Dem Historiker Helmut Kohl und seinen Epigonen, die Arbeitszeitverkürzung zur Überwindung der Beschäftigungskrise für Teufelszeug halten, sei ein Rückblick in die Geschichte empfohlen.

Als Karl Marx 1857 die ungeheuren Produktivitätsfortschritte einer entwickelten kapitalistischen Gesellschaft prognostizierte, da wurde in Deutschland noch über 80 Stunden in der Woche gearbeitet. Heute liegt die durchschnittliche Wochenarbeitszeit bei 38 Stunden. Im Jahre 1910 arbeiteten die Amerikaner noch durchschnittlich 3.000 Stunden im Jahr. 1993 waren es noch 1.800 Stunden. Schon in „wenigen Jahrzehnten“, so prophezeit der amerikanische Ökonom Robert Fogel, Nobelpreisträger des letzten Jahres, werden es 1.600 Stunden sein. Wachsender Wohlstand bei weniger Arbeitszeit, dieser historische Trend wird sich wegen der auch künftig zu erwartenden Produktivitätsfortschritte im hochproduktiven Industrie- und Bürobereich fortsetzen. Für die hochproduktive Sphäre gilt: Immer mehr Reichtum kann mit weniger Arbeit geschaffen werden. Wer die Desintegration in der Gesellschaft verhindern will, muß dafür sorgen, daß an diesem Wertschöpfungsbereich mehr Menschen durch Arbeit teilhaben können. Ohne weitere, mit teilweisem Lohnverzicht verbundene Arbeitszeitverkürzung geht das nicht.

Der Einwand des Münsteraner Ökonomen Holger Bonus, viele Befürworter der Arbeitszeitverkürzung gingen von der irrigen Annahme einer mehr oder weniger konstanten Arbeitsmenge aus, die es nur wie Ackerland umzuverteilen gelte, ist wichtig. Er sticht aber nur, wenn man unterstellt, daß sich durch Arbeitszeitverkürzungen der sonst wirksame Innovationsdruck abschwächen und die Marktposition der Unternehmen damit Schaden nehmen könnte. Dafür spricht nicht viel. Von den Beschäftigten in Unternehmen, die mittels Arbeitszeitverkürzung Entlassungen verhindern, darf man im Gegenteil neue Motivations- und damit Innovationsschübe erwarten. Nach Berechnungen des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung gäbe es 800.000 zusätzliche Arbeitslose in Deutschland, wenn wir heute noch die 40-Stunden-Woche hätten. Auch wenn andere Institute die Zahl bestreiten, der positive Beschäftigungseffekt läßt sich nicht wegdiskutieren.

Die klassischen Rezepte einer Antirezessionspolitik, die der frühere Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller 1967 noch halbwegs erfolgreich einsetzen konnte, reichen zur Bewältigung der heutigen Beschäftigungskrise bei weitem nicht aus. Seit 1975 – damals überschritt die Arbeitslosigkeit in Westdeutschland gerade einmal die Millionengrenze – hat sich der Sockel an Arbeitslosen von Rezession zu Rezession erhöht. Schiller hat erst jüngst wieder vor dem „Fehlschluß“ Arbeitszeitverkürzung gewarnt und statt dessen für eine Politik der „volkswirtschaftlichen Strenge“ geworben. „Priorität“ müsse die Förderung des „ökonomischen Wachstums“ haben, damit das „Volumen Arbeit“ vergrößert werden könne.

Gern verweisen die Arbeitgeber während der aktuellen Tarifverhandlungen auf die außereuropäische Konkurrenz. Ein französischer Textilunternehmer hat jüngst vorgerechnet, daß er an der Stelle eines französischen Arbeiters 9 Marokkaner, 35 Thailänder oder 65 Russen beschäftigten könne. Wer mit solchen Zahlen jongliert, verbreitet gefährlichen ökonomischen und sozialen Unsinn: Massive Lohnsenkungen zögen die gesamte Volkswirtschaft in einen Abwärtsstrudel, der entsprechende Nachfrageausfall führte zu einer Explosion der Arbeitslosigkeit.

Das relativ hohe Mindestkostenniveau für einen Arbeitsplatz in der privaten Industrie in Deutschland erfordert allerdings eine hohe Arbeitsproduktivität. Geht die verloren, sind die Arbeitsplätze nicht zu halten.

Eine gezielte Wirtschafts- und Wissenschaftspolitik kann diesen hochproduktiven Bereich stärken. Daß dadurch aber jemals wieder genügend Jobs entstehen könnten, ist so gut wie ausgeschlossen. Zur Lösung der Beschäftigungskrise reicht eine neue Wachstums- und Arbeitszeitverkürzungspolitik nicht aus. Gefragt sind zusätzliche Elemente, gerade für die eine Million Langzeitarbeitslosen, von denen 250.000 unter 25 Jahre alt sind. Sie werden in ihrem Leben nie wieder einen Job finden, wenn es nicht endlich gelingt, über alle ideologischen Barrieren hinweg niedriger entlohnte Beschäftigungsfelder zu erschließen. Fritz W. Scharf, Direktor am Max-Planck-Institut in Köln, hat dazu dezidierte Modelle vorgelegt. Scharf geht davon aus, daß das derzeitige tarifliche Mindestentgelt – obgleich in absoluten Zahlen sehr gering – für unproduktive Tätigkeiten gleichwohl zu hoch ist. Deshalb schlägt Scharf einen Niedriglohnbereich vor, der, je nach Höhe des Grundlohns, öffentlich subventioniert wird. Dabei geht es ihm um den Aufbau von Arbeitsplätzen, „mit denen Güter und Dienstleistungen produziert werden, die auf dem Markt abgesetzt werden können und deren Kosten deshalb zum überwiegenden Teil vom jeweiligen Arbeitgeber aus seinem Markterlös bestritten werden“. Die Gewerkschaften lehnen solche Niedriglohnbereiche ab. Sie fürchten die Verdrängung von derzeit gut bezahlter Arbeit. Ganz auszuschließen sind solche Effekte nicht, aber im Kern geht es bei dem Modell um die Erweiterung des regulären Arbeitsmarktes, also um das Angebot von neuen Produkten und Dienstleistungen. Wer da Lohndrückerei schreit, muß sich die Frage nach anderen, alternativen Rezepten für diese Arbeitslosengruppe gefallen lassen. Eine Fortschreibung und Ausweitung der bisherigen Programme reicht jedenfalls nicht aus. Walter Jakobs

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