: Kursbuch als Strickmusteranleitung
■ Gescheitertes Projekt: „Vokzal – Bahnhof Brest“ von Gerd Kroske
Ein Bahnhof ist eine Schnittstelle. Hier treffen Biographien aufeinander, beginnen oder enden wie Abstellgleise. Weltkriege wurden in Europa erst durch die Eisenbahn möglich. Die einen fuhren in der ersten Klasse zur Front, andere in der dritten und wieder andere im Viehwagen ins KZ. Für die „Sammeltransporte“ stellte die Deutsche Reichsbahn sogar Fahrkarten aus. Oftmals ging die Reise Richtung Osten. Der Bahnhof des weißrussischen Grenzortes Brest war und ist eine besondere Schnittstelle. Hier trafen nicht nur Soldaten aufeinander, hier enden auch Schienenstränge aus Ost und West: Um die Fahrt fortzusetzen, werden die Achsen ausgetauscht und an die europäische oder russische Spurweite angepaßt.
„Bahnhof Brest“: ein Sammelsurium an Assoziationen, an Themen für einen Film also. Gerd Kroske (früher hätte man gesagt: Dokumentarfilmer aus der DDR; heute heißt das: Absolvent der Film- und Fernsehhochschule Babelsberg) hat sich im „Bahnhof Brest“ leider verlaufen. Er flickt Szenen aneinander, als sei das Kursbuch der Bahn eine Strickmusteranleitung mit Regieanweisungen für Dokfilmer.
Als sei er zufällig mit einer Kamera in Brest aus dem Zug nach Moskau gefallen, weiß er scheinbar selbst nicht, worum es ihm geht. Um den Abzug der ehemals sowjetischen Armee aus Deutschland, um das Schicksal einzelner Soldaten, um einen von ihnen, der sich genau in Brest vor den Zug warf? Um Friedhöfe? Um historisches Filmmaterial mit Ulbricht, Stalin, Hitler und Honecker? Um ganz normale Reisende, die sich durch die Grenzkontrolle quälen? Um Menschen, die sich an riesigen Plastiktaschen abschleppen? Um Woher, Wohin oder doch vielleicht um Warum? Kroskes Dokumentarfilm beginnt mit Details: ausgediente, gelangweilte Soldaten der Roten Armee, die Mopeds zu Schrott fahren. Ein Interview mit einem jungen Soldaten, hoch über den Gleisen an einer Treppe zum Bahnsteig stehend, ist exemplarisch für den Film. Der Junge ist hübsch und naiv, besonders in den Schwarzweiß-Kontrasten des Films. Wie war es denn in der Armee, fragt ihn der Filmer. „Ach interessant, man ist viel rumgekommen, hat viele Leute kennengelernt.“ Der Interviewer schafft es nicht, dem Jungen anderes zu entlocken. Die Armee als Freizeitvergnügen, ohne Drill oder Gewalt.
Die Kamera aber fängt ein Bild ein, in dem die ungewisse Zukunft des jungen Manns versteckt liegt: Nervös fingert er russische Zigaretten aus der Schachtel und steckt sie in den Mund. Dann macht Kroske einen Schnitt, viel zu früh. Wir sehen den Sodaten nicht die Zigarette anzünden, nicht rauchen. Kroske schneidet Sätze weg und hat uns damit um ein Bild betrogen. „Bahnhof Brest“ – ein Film, der sich nicht auf seine Bilder verläßt und deshalb so wenige aussagekräftige Bilder findet. Für Kroske ist Dokumentarfilm Text, verbale Aussage.
„Der Film macht sich eben das Ordnungsprinzip des Bahnhofs zu eigen: chaotisch und ungeordnet überschneiden sich Geschichten“, versuchte eine Kollegin das gescheiterte Projekt zu rechtfertigen. Aber ein Bahnhof ist überhaupt nicht chaotisch. Das kommt einem nur von außen so vor. Andreas Becker
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