: Die vergebliche Suche nach einem Sinn
Es ist die Suche nach einem verborgenen Sinn, die uns in die Irre gehen läßt.
Der Scharfschütze, gleich welcher Partei, trinkt morgens seinen Tee. Irgendwann steht er auf, um Menschen töten zu gehen. Und doch hat er eine Mutter, ist verliebt gewesen und ist abends müde. Zu seinem Gotte betend schläft er ein.
Wo ist Sinn zu finden, der so weit ist, daß er einen solchen Tag umfaßt?
Kant, derselbe von den Ewiggestrigen vor die Posaunen des Stillstands gezerrte Kant, erklärt uns, wenn wir wollen, daß keinem Ding sein Sinn anhaftet. Mit dem Netz der menschlichen Vernunft läßt sich kein Sinn aus dem Meer der Zusammenhänge auf sicheren Boden ziehen. Kants kategorischer Imperativ weist auf die Notwendigkeit des Diskurses. Sinn muß ausgehandelt werden. Er ist nur vermeintlich schon da.
Schon ein Präzisionsgewehr führt Kants Imperativ scheinbar ad absurdum. Der Diskurs wird abgebrochen, indem der Träger anderen Sinns getötet wird. Oder indem man selbst getötet wird. Das ist eine extreme Ausprägung jener Erscheinung, die nicht nur im ehemaligen Jugoslawien als Macht bezeichnet werden kann. Macht deute ich in diesem Zusammenhang als Fähigkeit, sich dem Diskurs über Sinn von Zusammenhängen, Handlungen und Ideen zu entziehen. Oder zumindest das Spielfeld und die Spielregeln des Diskurs' zu bestimmen, was langfristig dasselbe bedeuten wird. Idealistisch gedeutet ist der totalitäre Staat derjenige, der die Unfähigkeit zum Diskurs in den Menschen und zwischen den Menschen (und damit Macht) zum eigentlichen Sinn menschlichen Daseins erhebt. Idealistisch nenne ich diese Vorstellung deshalb, weil hier Totalität als geplante gesetzt wird. Als Verschwörung mächtiger Menschen. Was aber, wenn Absichten und Handlungen kein (wenn auch destruktives) Ideal, keine Ideen, keinen Sinnzusammenhang mehr reflektieren? Wenn vom Chaos die Rede ist. Von konfligierenden Machtzentren, von ständig wechselnden Bündnissen und Zielen berichtet wird, wie im Falle des ehemaligen Jugoslawien?
Ich beobachte in letzter Zeit zunehmend Versuche, diesen Konflikt als sinnleer, als Krieg um seiner selbst willen zu charakterisieren. Macht- und Geschichtstheorien fangen diesen Krieg, so heißt es, nicht mehr ein. Was bisher im Schatten der Blöcke noch immer gelang, will diesmal nicht mehr gelingen: dem Leiden einen Sinn zu geben.
Es wird glaubhaft, daß der sogenannte Kalte Krieg die konzeptionelle Krise, in der sich Europa heute befindet, nicht verursacht, sondern ganz im Gegenteil nur gewaltsam zurückgehalten hat. Es ist kein Zufall, daß uns heute ein Konflikt, der zwischen den Blöcken eingeklemmt lag, mit seiner ganzen intellektuellen Schärfe in das Denken schneidet. Was ist zu tun?
Sind unsere Ausgangsüberlegungen richtig, dann ließe sich im ehemaligen Jugoslawien Sinn schaffen, und zwar durch den Willen und die Fähigkeit aller Beteiligten, einen Diskurs über ihre Zukunft in größtmöglicher Abwesenheit von Machtmitteln zu führen. Doch Vorsicht. Der Wille zum Diskurs vielleicht, ganz sicher aber nicht die Fähigkeit zum Diskurs kann durch den Einsatz von Waffengewalt von außen erzwungen werden. Letztere schon deshalb nicht, weil genau besehen auch wir, das gute Europa der Schiedsrichter, nicht über diese Fähigkeit verfügen. Diskurse, die über das Wie hinausgehen, werden auch bei uns allein schon durch den Imperativ Schnelligkeit = Funktionalität verhindert. Die europäischen Kommunikationsmedien sind dann auch die klassischen Wie-Medien.
Was geschehen soll, warum etwas geschieht, soll unsere Sorge nicht sein. Die vielen Wies, Wos und Wanns decken unser eigenes, ganz privates, tägliches Jugoslawien im Sekundentakt zu. Solche Massenmedien perpetuieren lediglich die Macht des Faktischen, indem sie Macht zu Fakten, zur Macht des Faktischen gerinnen lassen. So wird bei uns der Diskurs über den Sinn geführt, scheinbar geführt. Nur noch Fabeltiere sind uns die Warums, von vollständiger Unvorstellbarkeit bedroht. Das Faktische ist zur einzig denkbaren Realität geworden, die in sie als Masse Hineingeborenen sind kraftlos. Jenseits der endlos hergesagten Phrasen und der schönen, kalten Dinge hört unser Europa heute auf. Der Diskurs. Der Sinn.
Im ehemaligen Jugoslawien hat das Bollwerk des Faktischen nicht genug Macht besessen, um den Warums zu trotzen. Diejenigen, die sich darin behaglich eingerichtet hatten, trotzten hinter seinen Mauern dem Diskurs. Erstarrt wie es war, ist dieses Konstrukt von den Fragenden in die Luft gesprengt worden. Mit ihm all das, was einst zwischen den Blöcken Sinn machte oder machen wollte.
Jetzt macht dort zwischen den Vereinzelten nichts mehr Sinn. Die Farben der Fahnen nicht. Das Beten nicht. Der Kuß nicht, den der Scharfschütze einer Frau zuwirft, bevor er zum Töten geht.
Ein neuer Sinn muß gesucht, vor allem aber gemeinsam ausgehandelt werden. Der alte ist schal geworden, und er leuchtet blutrot in die Nacht.
Nicht nur im ehemaligen Jugoslawien.
Jugoslawien, das war, das ist Europa. Heute. Roberto Philipp Lalli M.A.,
Frankenthal
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen