■ Jelzins langerwartete Rede vor dem russischen Parlament: Tragischer Versöhnungsdrang
Grundsätzliches wollte Jelzin in seiner Rede vor der neuen Staatsduma behandeln. Tage hatte er mit seinen Beratern über dem Manuskript zugebracht. Was herauskam, ist höchst bescheiden und bietet keine Perspektive. Die Rede ist ein Bekenntnis der eigenen Handlungsunfähigkeit. Ein Protokoll der Zwänge, denen der Präsident erlegen ist. Seine Gegner führten die Feder. Immerhin waren sie so anständig, ihm eines zu konzedieren: das Versprechen, mit den Reformen fortzufahren. Um so tragischer klingt es, wenn der Präsident die Volksvertreter zum wiederholten Male zur Versöhnung ruft. Am Vorabend hatten sie ihm offen den Kampf angesagt, indem sie eine Generalamnestie für die einsitzenden Putschisten verabschiedeten. Momentan krakeelen sie nicht und bauen auch keine Barrikaden. Sie geben ohnehin indirekt den Ton an. Wenn es eine Frage in Rußland dringlich zu klären gilt, dann die: Kann man bei Extremisten auf die Bereitschaft zu Versöhnung hoffen?
Jelzin vermied auffallend, seinen Gegnern näherzutreten. Er suchte alle Bevölkerungsschichten zu befriedigen, indem er den Aufbau des Rechtsstaates und konkrete Verbrechensbekämpfung zu seinen Prioritäten erhob. Doch hat das nicht etwas Widersinniges, nachdem dasselbe Parlament über jegliche moralische Barriere hinweg Mörder einfach auf freien Fuß setzt? Es bestätigt das jahrhundertealte Vorurteil über die Beliebigkeit des Rechts in Rußland. In den Köpfen der Extremisten gibt es keinen moralischen Kodex, der über dem politischen Kampf angesiedelt wäre. Die strafrechtliche Folgenlosigkeit für politisch motiviertes Verbrechen wird den Glauben an den Rechtsstaat bei den Bürgern nicht gerade stärken. Im Gegenteil, es wird jene zu unverantwortlichem Handeln anstacheln, die bisher aus Feigheit zu Hause blieben, denen es aber schon lange in den Fingern juckte.
Zu alldem fand Jelzin nur höchst moderate Worte. Seine Berater waren überfordert gewesen, nächtens noch einmal Hand ans Manuskript zu legen. Die Rede wurde zudem im Fernsehen übertragen. Der Präsident wäre es jenen schuldig gewesen, die ihm bisher durch dick und dünn gefolgt sind. Sich selbst hat er damit aber auch keinen Gefallen getan. Die Selbststilisierung zum Landesvater, der über den politischen Kämpfen steht und Schiedsrichter spielt, können seine Gegner nur belächeln. Seine Anhänger müssen sich verlassen fühlen. Ihre Motivation, den Präsidenten zu verteidigen, dem eine neue Schlacht ins Haus steht, beflügelt dies gerade nicht. Der Versöhnungsdrang Jelzins hat etwas Tragisches: an Moral zu appellieren, wo sie bestenfalls ein Mittel zu Zweck ist. Klaus-Helge Donath, Moskau
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