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SPD-Flucht vor der Abstimmung

■ Beim Thema freie Schulanwahl überfiel gestern viele SPD-Abgeordnete der Stadtbürgerschaft ein sehr dringendes Bedürfnis nach Zigaretten

„Einigen habe ich erlaubt, den Plenarsaal bei der Abstimmung zu verlassen, anderen habe ich erlaubt, zu bleiben“, sagte SPD-Fraktionschef Claus Dittbrenner gestern nach der Abstimmung zur freien Schulanwahl in der Stadtbürgerschaft. Der Koalitionsantrag, nach langen Querelen zwischen SPD, FDP und Grünen am letzten Dienstag als Kompromiß ausgehandelt, war vielen Genossinnen und Genossen zu heiß, nachdem sich erst am letzten Samstag der Landesparteitag gegen die freie Schulanwahl ausgesprochen hatte. Jetzt ist im Stadtparlament beschlossen worden, zum kommenden Schuljahr die freie Schulwahl in der Sekundarstufe II stadtweit möglich zu machen und vom Schuljahr 1995/96 an auch die „in der Regel stadtteilbezogene freie Anwahl der SEK-I-Schulen“ einzuführen. Bisher werden die Schulen nach Wohnort zugewiesen.

Von 50 möglichen Stimmen der Koalition in der Stadtbürgerschaft bekam der Antrag aber nur eine Mehrheit von 38 Stimmen, wobei FDP und Bündnis 90/Grüne einstimmig für die Koalition stimmten. Die fehlenden Stimmen gehörten also Sozialdemokraten, die vor der Abstimmung reihenweise das Plenum verließen, allen voran die SPD-Landesvorsitzende und Bürgerschaftsabgeordnete Christine Wischer.

Bringfriede Kahrs, bildungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, hielt aus und erklärte in der vorangehenden Debatte, was so viele Genossinnen und Genossen zur Mattenflucht greifen ließ: „Wir empfinden es als gravierenden Mangel, daß die freie Anwahl der Sekundarstufe II ab 1994 durchgesetzt wird. Dieser Anspruch ist mehrheitlich gegen die SPD durchgesetzt worden und ich habe dafür auch heute kein Verständnis.“ Daß sich der Landesparteitag am letzten Samstag gegen die Öffnung zur freien Schulanwahl ausgesprochen hat während die Fraktion nur sechs Tage später das Gegenteil beschließt, nannte Kahrs dagegen „guten Politikstil“. „Die Partei muß zeigen, was sie will, die Fraktion, was in der Koalition möglich ist.“ Bringfriede Kahrs stimmte deshalb auch für den Koalitionsantrag.

Bildungssenator Henning Scherf (SPD) hielt nach dem Hin und Her der SPD-Fraktion eine Erklärung für nötig, „damit Sie wissen, wo ich stehe“. Er begrüße den Kompromiß der Koalition, weil er ausdrücklich die Schulstandorte verteidige und auch das Eltern- und Kinderinteresse nach wohnortnahen Schulen Rechnung trage. „Ich kann hinkommen, wo ich will, in allen Beiräten wird heute Wert gelegt auf ein stadtteilnahes Schulangebot, und das auch von CDU-Mitgliedern.“

Peter Sakuth war der einzige SPD-Abgeordnete, der während der Abstimmung im Plenarsaal blieb (zwei weitere SPD-Abgeordnete enthielten sich der Stimme) und gegen den Koalitionsantrag stimmte. „Die Leute müssen sich doch in der Nase herumgeführt fühlen, wenn wir ihnen einerseits eine breite Beteiligung bei der Änderung des Schul- und Schulverwaltungsgesetzes einräumen, andererseits aber vor dem Termin, zu dem die Stellungsnahmen vorliegen, diesen Beschluß fassen“, erklärte er nach der Parlamentssitzung. Erst am 8. April nämlich sollten die Interessenverbände ihre Stellungnahmen zur Öffnung der Schulgrenzen vor dem Parlamentsausschuß zur Änderung des Schul- und Schulverwaltungsgesetzes abgeben.

Die CDU freute sich über die zerstrittene SPD. Reinhard Metz hatte in letzter Minute noch namentliche Abstimmung beantragt. CDU-Bildungspolitiker Klaus Bürger sprach von einem „unwürdigen Schauspiel“. „Das zeigt, daß die wahren Betonköpfe in der SPD sitzen.“ Vor allem der FDP warf Bürger vor, sie habe zu weitreichende Kompromisse abgegeschlossen. Antragsformulierungen wie „soll angestrebt werden“ und „freie Anwahl ermöglichen“ heiße noch lange nicht, daß beides auch umgesetzt werde.

Annelene von Schönfeldt, bildungspolitische Sprecherin der FDP, fand das gar nicht. Der Koalitionsantrag garantiere eine annähernd gleiche Auslastung der Schulstandorte: „So verhindern wir, daß es einen Run auf bestimmte Schulzentren gibt, während andere vernachlässigt werden.“ Die Koalition habe sich auf „behutsame Änderungen“ geeinigt. Wolfram Sailer (Bündnis 90/Grüne) nannte den Koalitionskompromiß „demokratisch, dezentral, bürgernah und sachgerecht.“ Vor allem in den Schulen der Sekundarstufe I bleibe jetzt genug Zeit für die inhaltliche Profilbildung, die die Schülerinnen und Schüler aus den Stadtteilen anlocken soll. mad

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