: „Jetzt werden wir Jelzin einbuchten!“
150 Unverbesserliche bereiten in Moskau den amnestierten Oktober-Putschisten Ruzkoi und Chasbulatow einen begeisterten Empfang / Jelzins Manöver in letzter Minute ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath
„Genossen, laßt uns ihnen eine Straße aus Asphalt bereiten, mit bloßen Händen, wie wir es damals gemacht haben unter der Sowjetmacht“, trällert einer. Die Stimme des schwarzbepelzten Mannes bricht vor Rührung. Er zeigt auf die Fahrrinnen im Schnee. Hier werden die amnestierten Meuterer vom vergangenen Oktober sicherlich passieren. Die Menge ist euphorisiert. An die 150 Köpfe zählt sie. Ketten werden gebildet, um Ordnung zu halten und als Spalier. Organisatoren tun sich hervor, sprechen und mahnen mit gewichtigen Worten. Wie wird man es anstellen, wenn sie dann kommen? „Bleib nicht zu weit weg mit den Blumen, Wasja!“ – „Pobeda, Pobeda – Sieg und nochmals Sieg.
Es ist bitterkalt. Dicht an dicht stehen die Menschen zusammen. Die meisten von ihnen sind Rentner, alte Frauen. Sie halten Konterfeis ihrer Hoffnungsträger Alexander Ruzkoi und Ruslan Chasbulatow hoch, der Anführer der Oktoberrevolte gegen Präsident Boris Jelzin. Seit Stunden harren sie aus. Nur manchmal skandieren einige: „Laßt sie endlich frei. Ruzkoi als Präsident!“ Ein Mercedes drängt sich durchs Spalier. „Das muß der vom Generalstaatsanwalt sein!“ – „Ja, natürlich, ja!“ bekräftigt ein eiliger Chor. Es ging das Gerücht, die Unterlagen von der Staatsanwaltschaft seien noch nicht eingetroffen. Deshalb verzögere sich die Freilassung.
Alexej ist schon seit zwei Tagen hier. Der Mitvierziger gehört zu der altkommunistischen Organisation „Trudowaja Moskwa“ – dem „arbeitenden Moskau“. Er sei nicht zur Arbeit gegangen. Er will seinen Helden willkommen heißen. Der wird dafür sorgen, daß alles wieder so wird wie früher.
Konstantin ist einer von der leiseren Sorte. Er brülllt nicht mit, und er brüstet sich nicht. Er will das Imperium nicht zurück, wie die anderen, die von den Völkern der Sowjetunion nur im Possessiv sprechen. Konstantin ist Ende 40. Seit drei Monaten arbeitet seine Fabrik nicht mehr. Als ehemaliger Abteilungsleiter einer Elektrofrabrik erhält er Arbeitslosengeld – etwas mehr als die Mindestrente. Er fand Arbeit und verkaufte alles mögliche wie Schokoriegel, die Rußland überschwemmen: „Ist das Arbeit?“ fragt er. Früher brachte er monatlich das Doppelte eines Durchschnittslohns mit nach Hause. Schuld an allem trage die Regierung, wie lange soll man noch in einer Übergangsperiode leben? Sein Sohn in den 20ern kommt gut zurecht. Er verdient nicht schlecht, hat sich im Beruf des Vaters weitergebildet und ist zufrieden. Konstantin kann das nicht beruhigen.
Die Frau Viktor Anpilows kommt durch das Tor des Lefortowo-Gefängnisses. Die meisten erkennen die Frau des ultrarechten Provokateurs, der am vergangenen 1. Mai die Straßenschlacht vorbereitete. „Eine halbe Stunde, ich hole nur seine Sachen.“ Anfangs hieß es noch, die Amnestierten zögerten, ihre Zustimmung zu geben. Amnestsie ist schließlich ein Gnadenakt. Die Unterschrift kommt einem Schuldbekenntnis gleich. Doch wer diese Herrschaften kennt, hatte daran keine Zweifel. Sie stehen über dem Gesetz.
Kurz vor der Entlassung der Oktoberputschisten hatte Generalstaatsanwalt Alexej Kasannik am Samstag seinen Rücktritt erklärt. Alle vier Stellvertreter folgten ihm. Begründung: Vom Standpunkt des Rechts könne er die Amnestie nicht unterstützen. Mord sei Mord und Aufruhr Aufruhr. Als Bürger habe er Verständnnis für das Bemühen um Versöhnung ... Jelzins Emissär Georgi Saratow soll noch am späten Nachmittag dem Vorsitzenden des Parlaments Iwan Rybkin die Bitte überbracht haben, die Amnestierung hinauszuschieben. Zu spät. Der Akt war vollzogen.
„Jezt werden wir Jelzin hier einbuchten“, keift ein altes Weib. „Huuuurrrra!“ grölt ein heruntergekommener Typ, der dem Äußeren nach Vorkoster in Moskaus Wodka-Destille „Stolichnaja“ zu sein scheint. Heute abend wird gefeiert. Iwan hat sich seine Ausgehuniform angelegt. Der pensionierte Offizier trägt stolz seine Papacha, die graue Pelzmütze, die nur den Veteranen der oberen Offizierslaufbahn vorbehalten ist. An allem sei das Ausland schuld, die Amis, auch die Deutschen. Egal – Ehre dem großen Rußland! Und ein Wohlgefallen nur denen, die gleicher Meinung sind. Ob Schirinowski oder Ruzkoi! Diese Menschen dürstet nach Rache. Von Versöhnung keine Spur.
Siehe auch Seite 12
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen