■ Interview mit dem russischen Sozialpsychologen L. Gosman: „Jelzin hat fatalistisch reagiert“
Leonid Gosman ist Berater des ehemaligen Premiers und Reformarchitekten Jegor Gaidar. Gosman arbeitete als Sozialpsychologe an der Moskauer Universität und an verschiedenen amerikanischen Hochschulen. Er ist Autor des Buches „Von den Schrecken der Freiheit. Die Russen – ein Psychogramm“ (Rowohlt Berlin, 1993).
taz: In den letzten drei Monaten verfällt Rußland wieder in alte Verhaltensmuster. Steht das Land am Ende eines gescheiterten Reformprojektes?
Leonid Gosman: Noch immer sind drei Entwicklungen in Rußland denkbar: Die westliche Variante mit einer Menge Probleme, doch letztlich als gangbarer Weg; die zweite Spielart ist die der Patrioten, der nationale, spezifisch russische Weg, samt einer Mystik der „russischen Seele“ und all diese Mysterien inbegriffen. An diese „Seele“ glaube ich nicht. Zunächst kommt der Mensch und erst danach ist er Russe. Diese Leute liebäugeln ein wenig mit der Wiedererrichtung der Monarchie.
Die dritte Variante scheint mir am wahrscheinlichsten: ein korporativer Staat. So ein Staat würde mehr Gefahren in sich bergen als ein Faschismus. Denn eine Diktatur könnte nicht lange durchhalten. Der Westen muß begreifen, daß Diktatur in unserem Land keine Stabilität bedeutet. Einige im Westen sind der Meinung, Demokratie sei eine schöne Sache, aber als Modell womöglich nicht auf Rußland übertragbar. Sie wären um der Stabilität willen bereit, eine Diktatur zu akzeptieren. Diese Position ist nicht nur unmoralisch, sie ist schlichtweg falsch.
Worin besteht der für Rußland entscheidende Unterschied zwischen einer Diktatur und einem autoritären Korporativismus?
Eine effektive Diktatur bedarf einer ganzen Reihe psychologischer und organisatorischer Voraussetzungen. Beides ist nicht gegeben, denn es fehlt sowohl eine zentrale Polizei wie auch eine zentralisierte Armee. Das sah man beim letzten Putsch überdeutlich, als die Armee mindestens 24 Stunden beriet. Eine Diktatur würde daher höchstens zwei, drei Monate dauern. Dennoch wäre trotz ihrer Kürze der Blutzoll ungeheuer. Danach erhebt sich ein Bürgerkrieg, oder sogar ein neuer Weltkrieg beginnt. Wenn Schirinowski an die Macht kommt, wird er sehr schnell erkennen müssen, daß er das Land nicht stabilisieren kann. Seine Gegner sitzen überall. Die einzige Möglichkeit, das Land zu einigen, zwingt ihn, einen Feind ausfindig zu machen: „Wir müssen unsere Brüder in Estland retten, danach in Tadschikistan, in Deutschland, in Kalifornien...“
Die handelnden Gestalten des korporatistischen Modells sitzen schon in der Regierung – oder verstehe ich Sie jetzt falsch?
200 Supermonopole teilen das Land unter sich auf. Die Regierung wird ihnen zu Diensten sein und die Gesellschaft dürfte mitziehen. Wir steuern auf lateinamerikanische Verhältnisse zu, wo jeder Versuch scheiterte, die Macht der Oligarchien zu brechen. Gaidar als Premier war gegen diese Strukturen machtlos. In der jetzigen Regierung sitzen die tatsächlichen Eigentümer des Landes. Es wird eine Diktatur auf lokaler Ebene entstehen. In einer Stadt, die um eine große Fabrik herum gebaut ist, hat der Direktor alle Strukturen hinter sich. Die Psyche der Menschen ist gleichermaßen prädisponiert: Seit Jahrzehnten wissen sie, brauchen sie etwas, müssen sie sich an den Feudalherrn wenden. Es ist ein mafioses System.
Jelzin hat seine Überzeugungskraft eingebüßt, womöglich den Glauben an sein Vorhaben verloren. Er führt nicht mehr, sondern wird geführt. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?
Jelzin hat fatalistisch reagiert. Hier schätzt man einen starken Führer, jemanden, der kämpfen kann, wenn es ansteht. Er war populär, als er diese Eigenschaft besaß. Doch der Präsident beging einen tragischen Fehler. Die russische Legendengestalt Sambo lehrt: Geh' auf das ausgestreckte Messer zu, weich auf keinen Fall zurück! Nach den Wahlen hätte er mit den Reformen um so entschlossener fortfahren und den Menschen das erklären müssen. Statt dessen akzeptierte er die antireformerischen Ideen Tschernomyrdins. Er hat seine Schwäche und die seines Teams offenbart.
Man respektiert ihn nicht mehr sonderlich. Das Charisma ist verschwunden. Das braucht man aber in einer Gesellschaft, die auf keine längere demokratische Tradition verweisen kann. Noch sind das Amt des Präsidenten und die Verfassung kein Heiligtum wie in den USA. Mit ihm passierte das gleiche wie mit allen unseren führenden Politikern. Irgendwann sind sie isoliert. Ich weiß, daß Jelzin keine neuen Gesichter mag. Er glaubt nur an sehr wenige Leute. Ihnen vertraut er gänzlich. Verständlicherweise üben sie ein Monopol auf seine Realitätswahrnehmung aus. Ein Problem besonders russischer Politiker: Sie leben in einer künstlichen Welt. Ihre Umgebung ist nicht übermäßig luxuriös. Aber sie bewegen sich in einem völlig abgeschotteten Raum. Spezielle Geschäfte, eigene Schulen für die Kinder...
Wie verhalten sich die Demokraten? Werden sie den Präsidenten stützen, weil die Alternative Ruzkoi oder Schirinowski hieße?
Wir folgen dem kleineren Übel. Der Präsident glaubt wirklich an demokratische Maßstäbe. Er will Rußland an universelle Werte heranführen. Natürlich müssen wir ihn unterstützen. Aber wer weiß, was morgen ist? Sollte er an den Wahlen 96 teilnehmen, ist es nicht ausgeschlossen, daß wir ihm die Stange halten. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß Tschernomyrdin der zweite russische Präsident wird. Er wird geschätzt und besitzt Macht. Ich weiß nicht, ob seine Persönlichkeit es zuläßt, gegen Jelzin anzutreten. Gaidar kann es bis heute nicht. Er versteht, was Jelzin für das Land geleistet hat. Wenn Jelzin nicht teilnimmt – er ändert seine Meinung ja täglich –, wird Tschernomyrdin sehr gefährlich für das Land.
Selbst in der Regierungserklärung gibt Schirinowski die Tonart vor. Hat er die Hegemonie über den politischen Diskurs erlangt?
Auch das ist ein Fehler des Präsidenten. Wie kann man einfach die gleichen Slogans übernehmen? Ich bin kein Patriot und glaube trotzdem, daß wir etwas unternehmen müssen, um den Auslandsrussen zu helfen. Schließlich tragen sie keine Schuld daran, daß sie sich plötzlich in einem anderen Staat wiederfinden. Aber Slogans helfen ihnen nicht. Wir haben eine Menge Macht gegenüber den ehemaligen Republiken, da sie nach wie vor von uns abhängen. Es wäre also ein leichtes. Wir könnten es auch so machen wie die Deutschen mit den Rußlanddeutschen, die nur gebundene Mittel freigeben. Die sogenannten „Patrioten“ wollen den Betroffenen gar nicht helfen, weil ihnen nur der schwelende Konflikt nützt. Slogans zu imitieren, aber nichts zu tun ist das Schlimmste, was die Jelzin-Regierung tun konnte. An eine Rückkehr der Reformer in die Regierungsverantwortung zu glauben ist derzeit sehr unrealistisch. Wir können nur dafür sorgen, daß unsere Anhänger in den Provinzen, wo sie in der Minderheit sind, überleben und weiter an die Zukunft des Landes glauben.
Dem Ausland müssen wir klar machen: Noch ist der Krieg nicht beendet, wir stehen erst am Anfang. Wenn der Westen glaubt, Rußland habe keine demokratische Zukunft, wird er seine Hilfe einstellen. Diktatur aber bedeutet Krieg. Interview: Klaus-Helge Donath,
Moskau
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