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Gentherapie in der Grauzone

Berliner Mediziner bereiten Eingriff in das menschliche Genom vor / Gesetzliche Regelungen gibt es nicht / Bis Ende des Jahres soll Arbeitsgruppe klären, ob Handlungsbedarf besteht  ■ Von Wolfgang Löhr

Um den ersten bundesdeutschen gentherapeutischen Versuch in der Bundesrepublik findet zur Zeit ein Wettrennen statt. Mehrere Arbeitsgruppen hatten in den letzten Monaten bereits angekündigt, daß sie kurz davor stehen, den Eingriff ins menschliche Genom zu wagen. Professor Roland Mertelsmann von der Freiburger Universitätsklinik wollte schon im vergangenen Jahr Versuche mit 14 Krebspatienten starten, mußte aber aus Sicherheitsgründen die Experimente verschieben. Am Hamburger Klinikum Eppendorf will Professor Dieter Hossfeld 20 Patienten, die an Leukämie leiden, gentechnisch markierte Knochenmarkszellen einpflanzen. Der Start ist für 1995 anvisiert. Bekannt ist auch, daß am Berliner Max-Delbruck-Centrum (MDC) an Gentherapien zur Behandlung von Bluthochdruck gearbeitet wird und daß Forscher in Bonn und München Experimente vorbereiten. Als Vorreiter dieser neuen Methode werden aber voraussichtlich Wissenschaftler des Universitätsklinikums Rudolf Virchow (UKRV), das der FU Berlin angegliedert ist, in die Annalen der Medizingeschichte eingehen.

Auf Anfrage der taz bestätigte der Grundlagenmediziner Professor Burkhardt Wittig zwar, daß man dort in den Startlöchern sitze, zu weiteren Auskünften war er aber nicht bereit: „Wir wollen selbst bestimmen, wann wir damit an die Öffentlichkeit gehen.“ Und auch bei Professor Dieter Huhn, dem Direktor der UKRV-Abteilung Mediziniche Klinik und Poliklinik, in der die gentherapeutischen Versuche durchgeführt werden sollen, herrscht Schweigen vor.

Aus dem Umfeld der FU-Mediziner ist zu erfahren, daß die Arbeitsgruppe ein Behandlungskonzept erarbeitet hat, mit dem Resistenzprobleme bei der Krebsbehandlung umgangen werden können. Bei der Krebstherapie mit Chemotherapeutika oder mit Bestrahlung entwickeln die Tumorzellen häufig Resistenzen, so daß eine weitere Behandlung mit einer höheren Dosis fortgesetzt werden muß, was beträchtliche Nebenwirkungen mit sich bringt. Für das Resistenzphänomen ist eine Gruppe von Genen, darunter das Multiple Drug Resistence-Gen (MDR), verantwortlich. Die FU-Mediziner wollen nun mittels der Gentechnologie dieses MDR-Gen abschalten. Sogenannte Antisense-Nukleotide, das sind in diesem Fall spiegelbildlich zum MDR-Gen aufgebaute Genomabschnitte, sollen dazu in die wuchernden Zellen eingeschleust werden. – Rechtlich finden gentechnische Eingriffe in das menschliche Genom, solange es sich nicht um eine verbotene Keimbahntherapie handelt, derzeit in einer Grauzone statt. Gentherapeutische Eingriffe in menschliche Körperzellen sind nicht geregelt. Vom Gentechnikgesetz werden derartige Versuche nur in der Vorbereitungsphase erfaßt, die Anwendung am Menschen selbst ist ausdrücklich aus dem Regelungsbereich des Gesetzes herausgenommen worden. In der Praxis wird die Gentherapie wie jedes andere experimentelle Heilverfahren behandelt. Die Versuchsplanung muß lediglich einer Ethikkommission zur Begutachtung vorgelegt werden. Entsprechende Kommissionen sind an jeder Universitätsklinik eingerichtet. Bei den Mitgliedern handelt es sich um Wissenschaftler aus dem Klinikbereich. „Eine Unabhängigkeit der Gremien ist damit nicht gewährleistet. Sie sind ja alle von der Klinik abhängig“, kritisiert die Biologin Helga Satzinger, eine von zwei Nichtmedizinerinnen in der Ethikkommission der Berliner Landesärztekammer, das Verfahren. Selbst die Kommissionen der Ärztekammern werden nicht bei der Begutachtung von klinischen Experimenten eingeschaltet. Professor Hanfried Helmchen, Leiter der Ethikkommission am UKRV, bestätigt, daß seine Kommission völlig selbständig arbeitet. „Es besteht keine Mitteilungspflicht an die Ärztekammern.“ Und auch ein „Mitteilungswunsch“ sei noch nie geäußert worden. – Die Bundesärztekammer selbst ist schon vor längerer Zeit aktiv geworden, um Regelungen für die gentherapeutischen Versuche zu erarbeiten. Im Jahre 1989 veröffentlichte sie Richtlinien zur Gentherapie beim Menschen. Dies war aber wohl mehr zur Beruhigung der Öffentlichkeit gedacht. Die Richtlinien selbst blieben ein Papiertiger. So ist in den Richtlinien vorgesehen, daß in der „Anfangsphase der klinischen Einführung“ eine „bundesweit arbeitende“ Ethikkommission die Begutachtung der Versuchsplanung übernimmt. Obwohl mehr als drei Jahre inzwischen verstrichen sind, wurde von der Bundesärztekammer eine derartige Kommission nie eingerichtet.

Seit einigen Monaten macht sich nun eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe, angesiedelt beim Gesundheitsministerium, darüber Gedanken, ob überhaupt ein gesetzlicher Handlungsbedarf besteht. Bis Ende des Jahres wollen die Fachbeamten sich Zeit lassen, um zu klären ob ein Gentherapie- Gesetz notwendig ist. Dann werden die ersten Versuche schon längst begonnen haben.

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