: Black & white – Geschichten aus dem neuen Südafrika Von Bartl Grill
Ein Wesenszug der Diktatur ist das Schweigen. Nehmen wir nur die Pracht- und Aufmarschplätze in Santiago, Peking oder Addis Abeba: Sie wirken oder wirkten leichenstill. Städtisches Treiben, Trubel, Menschenaufläufe sind für Tyrannen stets anarchische Erscheinungen. Wer flaniert, führt Revolutionäres im Schilde. Wer in Wirtshäusern herumhockt, debattiert über Aufstand und Umsturz. Orte der freien Rede sind unkontrollierbar, unberechenbar.
Auch so besehen herrschte in Südafrika eine Diktatur: Das Regime der Apartheid hat alle Öffentlichkeit abgetötet. Die Straßen, die Plätze in den weißen Städten schweigen, die Kneipen sind leer. Die Angelsachsen trinken ihre Sundowner im Country Club, die Buren treffen sich hinter hohen Mauern zum Braai im Privatgarten. Nur dort, wo sich der Polizeistaat nicht regelmäßig hintraute, tobt das richtige Leben. Zum Beispiel in den „schwarzen“ Shebeens.
Trotzdem gibt es auch jenseits der Townships noch Biotope, die die burischen Flurbereiniger übersehen haben. Sie sind in den „grauen“ Vierteln zu finden, wo Schwarz und Weiß und Gelb und Blau sich mischen. Zum Beispiel in Orange Grove, Johannesburg. Die Pinte heißt „Radium Beer Hall“. Keiner weiß, woher der radioaktive Name kommt. Vielleicht ist er aus der Tatsache abgeleitet, daß dieser Ort eine Halbwertzeit hat, die jede Diktatur überdauert? Wie auch immer, die „Radium“ ist eine Nachbarschaftskneipe, in der sich die People aus Orange Grove treffen. Gleich am Eingang lädt ein wuchtiger Tresen aus Mahagoni ein, der ebensogut in irgendeinem Pub in Liverpool stehen könnte. Die blecherne Stuckdecke ist knallgrün und sieht aus wie ein zugelaichter Froschweiher. Die Ventilatoren, Stil Casablanca, wirbeln immerzu. Hier gibt es die besten Spare ribs und das süffigste Bier in town. Und stets herrscht ein Höllenlärm wie im Wirtshaus im Spessart, besonders wenn Mike, der Chefmusikant, sich quer durch die Jazzgeschichte bläst. Die Trompete kommt aus Dresden. „Unverwüstlich“, lobt der Besitzer, „Made in Hitlerland.“ Mike wird begleitet von einem Pianisten, der zu jener Sorte gehört, die früher im Saloon abgeschossen wurde. Die Gäste lieben dieses kakophonische Duo.
Das Publikum heute: Buren in milchblauer Kolonialistentracht (Trevira). Ein grantiger Preisboxer mit Filius. Zwei Hippiemädchen. Ein Pärchen, das unschwer der Fremdgängerei zu überführen wäre. Ein Rasta-Mann. Eine bärtige Gruppe von Hektoliteraten. Besonders erwähnen wollen wir auch noch einen ältlichen Schönling, der der Bruder von Howard Carpendale sein könnte: toupiertes Haar (Marke: Jason King), Röhrenhose, Plateauabsätze. Nein, hier feiern die 70er Jahre, das geschmackloseste aller Zeitalter, nicht fröhliche Urständ wie in Europa, hier haben sie nie aufgehört!
Schwarze Freunde sagten uns neulich, sie würden sich in der „Radium“ nicht so wohl fühlen. Zu weiß, zu europäisch. Das ändert sich allmählich. An diesem Abend sitzen zwei Afrikaner am Tresen. Sie haben den Platz gewählt, der dem Eingang am nächsten liegt. Bald legen sie alle Schüchternheit ab und gestikulieren und debattieren wie alle anderen auch. Es brodelt und kocht: unkontrollierbare Öffentlichkeit. Südafrika nach der Diktatur. Und Mike trompetet voller Inbrunst „As time goes by...“
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