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Der heilige Orgasmus als Basisarbeit

■ Ein Gespräch mit der Theologin und Domina Heide Marie Emmermann über Sexarbeit, Katharsis und Gotterfahrung

Heide Marie Emmermann ist evangelisch aufgewachsen und mit 19 Jahren aus der Kirche ausgetreten. Nach ihrem Abitur auf dem zweiten Bildungsweg, der „Fragen aufgerufen“ hat, studierte sie ab 1974 katholische Theologie, zusätzlich Soziologie, Politik, Griechisch und Latein. Nach ihrem Studium arbeitete sie zunächst mehrere Jahre als Mentorin für Laientheologen und danach eine Zeitlang als Domina. Heute veranstaltet Frau Emmermann Seminare und arbeitet als Publizistin.

Sie haben als Theologin und als Domina gearbeitet. Sind die beiden Berufe eine Ergänzung? Wo liegt die gegenseitige Befruchtung? Ist das Pastorale, das Sie als Theologin wichtig fanden, im Beruf als Domina erhalten geblieben, oder gibt es andere/mehr Möglichkeiten? Gibt es die Transformation vom einen ins andere?

Heide Marie Emmermann: Als Mentorin hatte ich im geistigen Bereich mehr Möglichkeiten, Theologie erfahrbar zu machen, zum Beispiel in Gruppenprozessen. Als Domina läuft das Ganze über die Sexualität. Da geht's erst mal in die Lust rein, in Schmerzen, alte Wunden sollen aufbrechen und heilen, es gibt nicht gleich so einen hohen Anspruch... Das ist ganz einfacher Dienst am Menschen, manchmal sehr dreckig: geistig, seelisch dreckig, sehr anstrengend. Dominas bekommen häufig Depressionen, brauchen eigentlich Hilfe. Selbst braucht man eine sehr gute Seelenhygiene, um mit dem fertig zu werden, was da herangetragen wird. Beispielsweise waren die Frauen sicher, daß ich durch die Arbeit im Puff mein positives Menschenbild verlieren, nur noch Ekel bleiben würde. Nach einigen Wochen fragten sie mich spöttisch: „Nun, siehst du immer noch den Schöpfungsfunken Gottes im Menschen? Das ist doch nur Dreck – und wir sind es auch.“ Erst nachdem ich die Arbeit und meine Einstellung durchgehalten hatte, öffneten sich die Frauen mir gegenüber. Jetzt allmählich wird mehr darüber gesprochen, das hat einen therapeutischen Effekt, wird ein bißchen aus dem Subkultur-Mief herausgeholt. Gute Frauen, die da langfristig arbeiten, müssen eine starke Persönlichkeit haben, das kann nicht jede. Nur so, zum Geldverdienen, hält man das nicht lange aus.

Der Dienst am Menschen ist also die Essenz. Ist das dann das Gleiche geblieben, nur auf anderem Niveau?

(Pause) Mein Dienst? Ja, mit den Studenten war es leichter. Die kriegen unheimlich viel, Studium als persönliche Vertiefung, das ist schon Luxus. Als Domina ist dieser Dienst knallharte Basisarbeit. Ich bin ja jetzt nicht mehr als Domina tätig, ich mache ab und zu solche Sessions, aber dann suche ich mir die Leute aus, und die haben dann wieder dieses Niveau.

Können Sie das „Niveau“ erklären?

Ein Beispiel: Da ist ein Professor der Naturwissenschaften, Leiter einer Forschungsabteilung. Der hat es, dieses Niveau. Mit ihm habe ich drei Todesrituale gemacht. In den jeweiligen Pausen haben wir uns nicht über die griechische Mythologie, sondern auch über geistige und naturwissenschaftliche Erkenntnistheorie unterhalten. Das meine ich.

Hängt Niveau also unmittelbar mit Bildung zusammen oder kann es auch die Person, die Persönlichkeit sein?

Die Bilder, die jemand hat, die man als Domina dem Mann ja erfüllt, sind nicht an Bildung gebunden. Der Umgang mit den Bildern ist allerdings total unterschiedlich. Die eher Ungebildeten haben Angst davor, versuchen zu verdrängen. Diese Männer bleiben stumpfer in der Sprache, man muß ihre Bilder herauslocken. Wer hingegen eloquenter ist und Bilder hat, sei es, daß er bewußt Sachen nachholen will, Mangelerfahrungen aus der Kindheit oder Dinge, die er in diesem Leben nicht erlebt hat, der macht es sich und mir leichter, weil ich ihm einfach etwas entgegensetzen kann, nicht etwas vorsetzen muß im Vertrauen darauf, daß es sein Thema ist. Es soll ja um ihn gehen, darum, seine Bilder aufzulösen, zu erlösen. Das steht zentral.

Sie verstehen Ihre Arbeit also auch als Dienstleistung am Kunden beziehungsweise Klienten: Bilder auflösen und erlösen – da schwingt Theologie mit. Ist es möglich zusammenzufassen, was da vor sich geht?

Ich versuche es. Es geht um einen Integrationsprozeß von Bildern, so daß diese mich nicht mehr erdrücken, mich nicht mehr süchtig und abhängig machen. Ein Beispiel: Ein Mann, Biologe in einer Forschungsanstalt, konnte nicht mehr arbeiten. So schildert er seine Bilder: „Ich bin ein Galeerensträfling, ich muß geschlagen werden, sonst kann ich es nicht mehr aushalten.“ Mit ihm habe ich diese Dinge simuliert, nachempfunden. Im Idealfall – beim dritten oder vierten Mal – ist dadurch das Bild erlöst, integriert. Das ist die eine, die psychologische Seite; der kathartische Schritt hängt damit zusammen, daß er gezwungen wird, seine Grenzen zu überschreiten, sich loszulassen und sozusagen „Außer-Ich-Erfahrungen“ zu machen. Wie im heiligen Orgasmus, total ekstatische Erfahrungen. Wie der eine mir schrieb, mit dem ich die Todesrituale gemacht hatte: „Ich sah erst gar nichts mehr, zwei bis drei Tage lang, aber dann sah ich die Dinge plötzlich neu und nun richtig.“ Das ist der Ausdruck dessen, daß es gestimmt hat.

Wie beim Puzzlespiel...

Genau. Wo die Dinge an die richtige Stelle geraten und zusammenpassen. Er schrieb dann auch noch: „Ich hörte das schönste Exultemus, mir liefen die Tränen über die Wangen, ich bin erlöst.“ Wenn man solche Dinge erlebt, dann hat es sich wirklich gelohnt, das sind die Sternstunden.

Sehen Sie sich dann als Handlangerin des Göttlichen?

Oh! (lacht)

Sie bieten Menschen in Sternstunden Erlösung.

Funktional bin ich „Zeremonienmeisterin“ aus einer Distanz, die vorhanden sein muß. Wenn wir beide großes Glück haben, ist tatsächlich Erlösung da. Als Domina muß man wahnsinnig schnell improvisieren können. Wenn eine Situation nämlich nicht vorhanden ist, muß man sie simulieren, zum Beispiel ein Bild der Wüste. Der andere muß sich reingeben, und wenn er es nicht tut, muß er gezwungen werden, bis er es tut. Hier das richtige Maß zu finden, ist eine Gratwanderung, das muß man spüren. Im Idealfall, ja... (sinniert) ...es ist nicht immer anstrengend, war auch schön, ja.

Und wenn dieser Erlösungsschritt geklappt hat, dann käme der Kunde auch nicht wieder, beziehungsweise käme auf neuer Stufe mit neuen Bildern, neuen Themen wieder?

Im Idealfall wäre das so. Ich gehe aber nicht davon aus, daß die Puffs das leisten können. Es müßte Häuser geben, die ein Nachgespräch anbieten, weil der Klient damit nicht allein bleiben kann. Meine Idee wäre, Vorstufen zu haben: Ritualmäßig sollte es verschiedene Räume geben, wo Stück für Stück vom Alten abgelegt wird. Zur Entkleidung, zum Bad, zum eigentlichen Ritualraum, bis hin zum Podest, wo diese Dinge gemacht werden, wo das Ausgeliefertsein total wird. Ziel des Ganzen ist „Entpersönlichung“, Loslassen des Alten. Dann wird er geöffnet, zum Beispiel durch Vögeln, auch anal – den Hintern auflassen, wirklich alles auflassen. Danach kommt er, immer noch schweigend, mit sehr schöner Musik – bei den Orgasmen beispielsweise Tschaikowsky oder so – dann kommt er in einen weißen Raum. Der sollte wie ein sakraler Raum sein, vielleicht nur mit Licht; nicht konfessionell gebunden, das brauchen wir heutzutage nicht mehr, alle Religionen wollen das Gleiche: den Frieden und die Liebe. In diesem Raum also bleibt er allein, so eine halbe Stunde, um sozusagen sein inneres Licht zu finden. Dann wird er abgeholt, weißer Bademantel über, dann erst Essen, dann erst Alkohol, dann erst langsam anziehen, Gespräch...

Und was kostet so etwas?

So ein Durchgang kostet 3.000 bis 5.000 DM. Man braucht ja sehr viel Personal dafür. Das war schon immer meine Vision. Das wäre „Gott ist Fleisch geworden“ und umgekehrt. Dann kämen Himmel und Erde zusammen. Das würde ich mir so wünschen. Da gehört die Sexualität dazu, weil sie eine Möglichkeit ist, Gott zu erfahren, und Gott hat sie uns schließlich gegeben. [für drei- bis fünftausend mark??, d. s-in]

...und sie gehört notwendig dazu?

Notwendig, Not wendend, selbstverständlich wendet Sexualität auch Not, es ist lächerlich, das abstreiten zu wollen, das wäre eine Sünde.

Jetzt taucht der Begriff „Gott“ von ihnen selbst auf. Zurück zur „Zeremonienmeisterin“, Handlangerin des Göttlichen nannte ich es vorhin: Ist es wichtig, ob es Gott gibt, wie es Sie, Ihn, Es gibt?

Gott ist für mich ein ganz zentrales Thema. Ich fühle mich als Theologin. Gott ist für mich kein Er, Sie oder Es. Gott ist das Tetragramm, das nicht aussprechbar ist, reine Wahrheit, Licht, Klarheit. In Gott getaucht, hat man keine Fragen mehr.

Arbeiten Sie nur mit Männern oder auch mit Frauen? Gehen auch Frauen zu Dominas? Ist das ein noch größeres Tabu? Von den Bildern her wäre es ja ein Bedürfnis, das bei Männern und bei Frauen gleichermaßen auftauchen könnte.

Im Rotlichtbereich habe ich noch keine Frauen bei Dominas erlebt. Es gibt natürlich Rituale, in die Sklavinnen eingebunden sind. Die Herrin muß aber dabei bleiben, um aufzupassen. Die Männer können das nicht, verletzen die Frauen vielleicht. Die Domina ist der Schutz für die Frau. Das habe ich öfter gemacht. Daß Frauen alleine zur Domina gehen, habe ich noch nie gehört. Außerhalb des Rotlichtmilieus bin ich dabei, Häuser zu finden, in denen solche Erfahrungen auch für Frauen möglich sind, Schutzräume, die durch Vertrauen und Verantwortung gekennzeichnet sind. Daraus sollte ein Netzwerk entstehen. Mein Probeseminar in diesem Bereich war sehr erfolgreich, weitere folgten im Herbst 1993.

...und Sadomasochismus, Rollenspiele oder einfach lesbische Erfahrungen?

Habe ich noch nie erlebt.

Wie stehen Sie zu Hurenbewegung feministischer Theologie?

Die Hurenbewegung verstehe ich gut! Sie bringt diese Themen aus dem Dunkel heraus, das ist gesellschaftlich sehr wichtig. Mit feministischer Theologie habe ich nicht sehr viel Erfahrung. Einerseits ist sie gut, andererseits in manchen Punkten – darf ich das sagen? – eher Psychologie als Theologie, wenn zum Beispiel der Vatergott als Vergewaltiger dargestellt wird. Man sollte da trennen. Es geht nicht darum, Machtverhältnisse umzukehren, sondern aufzulösen. Frauen können das.

Besonders die Frauen?

Ja, besonders die Frauen. Weil sie wissen, was Unterdrückung ist. Männer wahrscheinlich auch, aber nicht so bewußt. Frauen arbeiten auch schon lange am Thema, können sich das leisten, nicht mehr Sündenbockpolitik zu betreiben, sondern an die Stellen hinzugehen und Dinge aufzulösen. Ich meine, wir sind inzwischen soweit. Ich freue mich, daß immer mehr Frauen als Persönlichkeiten in die Öffentlichkeit kommen, die sich nicht mehr nur abgrenzen. Das wird auch honoriert, das finde ich gut.

Unterdrückungsverhältnisse wieder auflösen: Geht das denn, ohne daß die Frauen wieder leiden oder wieder Pädagoginnen spielen?

Ich glaube, daß wir uns abgrenzen müssen. Selbst als Domina habe ich unterscheiden müssen, wer Freundin ist, wer Partnerin, wer mir Kraft absaugt. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.

Sagen Sie uns noch einige Worte zu ihrem momentanen Lebensabschnitt, zu Ihren Plänen?

Bücher schreiben, Seminare anbieten. Mein nächstes Buch ist fertig. Die Workshops und Seminare fanden bisher in Zusammenarbeit mit Organisationen statt, werden jetzt aber in eigener Regie durchgeführt.

Der Titel des neuen Buches?

„Credo an die lebendigen Toten“. Es ist allerdings noch nicht verlegt.

Wo kann frau sich weiter informieren?

Bei mir: Heide Marie Emmermann, Sommerstraße 25, 81 543 München.

Das Gespräch führten Petra ter Huizen und Heidi Jagner. Das vollständige Interview erschien erstmals im Februarheft der Zeitschrift „Schlangenbrut. Streitschrift für feministisch und religiös interessierte Frauen“. Bezugsadresse: Schlangenbrut e.V., Postfach 7467, 48040 Münster

Literaturhinweis:

Heide Marie Emmermann: „Credo an Gott und sein Fleisch. Erfahrungen mit irdischer und himmlischer Liebe“, Hoffmann und Campe Verlag, 1991, 223 Seiten, 34 DM

(als Taschenbuch im Heyne Verlag, 1992, 9,80 DM)

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