: Leute am Rande des Abgrunds
■ Aleksandar Tisma aus Serbien liest heute im Literaturhaus
Das Leben ist Die Schule der Gottlosigkeit, Geschichte hat kein Mitleid, der Mensch ist eine Bestie, die Gewalt ist überall und Krieg ist nur der Katalysator, der das Grauen ans Licht zerrt. Nach dem Roman Der Gebrauch des Menschen ist Die Schule der Gottlosigkeit das zweite Buch von Aleksandar Tisma, das auf deutsch erschien. Geboren ist der Autor von bisher zehn Roman-, Erzähl- und Gedichtbänden 1924 in der heutigen Hauptstadt der serbischen Provinz Wojwodina Novi Sad.
Der Sohn eines Serben und einer ungarischen Jüdin diente Ende des 2. Weltkrieges in der jugoslawischen Befreiungsarmee und verbrachte den größten Teil seines Lebens in seiner Geburtsstadt. Das Milosewic-Regime trieb den unliebsamen Autor ins Pariser Exil.
Tisma definiert sich selbst nicht als balkanischen Autor oder als Dissidenten, sondern als einen „Schriftsteller, dem zwar Dinge widerfahren wie allen anderen Menschen auch, der aber die Geschehnisse damit beantwortet, daß er sie beschreibt“. Seine Geschichten ereignen sich in einer Zeit, in der der Krieg überall seine grausamen Spuren hinterläßt. Aber Tismas Protagonisten sind nicht nur auf heutige europäische Krisengebiete festgelegt. Es sind keine positiven Helden, sondern Menschen, die jederzeit und auf jedem Breitengrad leben könnten: ohne Illusionen, Träume und Moral. Tisma skizziert die Menschen in Grenzsituationen, um ins Epizentrum ihres Daseins zu gelangen. Tisma stellt Menschen am Rande des Abgrunds dar; wie der Folterer Dulics, dessen Sohn zu Hause stirbt, während er bei der Arbeit einen 18jährigen zu Tode prügelt; oder Schneck, der nach seiner Flucht aus einem KZ mit falschen Papieren auf der Suche nach Liebe und Glück ist; oder jener Vater, der die ganze Nacht auf die Uhr starrt, im Bewußtsein, daß am nächsten Morgen der Abtransport ins KZ bevorsteht; was kann er, was soll er machen, was hätte er anders machen sollen?
Tisma will gerade verfrühte moralische Verurteilung verhindern. Die Kernfrage in vielen Erzählungen könnte heißen: Welche Mechanismen halten den Menschen am Leben, welche hindern ihn an einer Veränderung? Oder: Wie verhalten sich Menschen, wenn sie Ohnmacht, Zweifel, Ratlosigkeit oder Unsicherheit spüren? - Eine zu komplexe Frage, um darauf eine eindeutige Antwort geben zu können.
Um möglichst vielfältige Verhaltensmuster skizzieren zu können, stellt Tisma in seinen Erzählungen die Personen vor die Kulisse des Krieges, da in extremen Situationen die Existenzängste deutlich an die Oberfläche treten. Das ist Tismas Grundmotiv, auf dem er in melancholischen Tönen seine Charaktere malt, die nicht selten eine doppelbödige Moral besitzen, um dann am Ende jeder Erzählung doch mögliche Antworten anzudeuten.
Nikos Theodorakopulos
Heute, 20 Uhr, Literaturhaus, Alexsandar Tisma, „Die Schule der Gottlosigkeit“, Hanser Verlag, München, 29.80 Mark
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