: Kleine Nervensägen wider Willen
Zappelkinder: eine Krankheit / Eltern fühlen sich von Ärzten und Lehrern nicht ernst genommen / Arbeitskreis rät in Selbsthilfegruppen zur Diät / Sanierung der Darmflora statt Psychopharmaka ■ Von Heide Platen
Peter kann nicht stillsitzen. Er zappelt, wippt mit dem Oberkörper vor und zurück. Dann schießt ihm ein Bein seitwärts und trifft den Nachbarn ans Knie. Peter ist zehn Jahre alt und guckt vorsichtshalber aggressiv. Sein Freund Michael wedelt ständig mit den Händen, redet laut und gehetzt, überschreit die anderen Kinder bis zur Atemlosigkeit. Peter und Michael sind Nervensägen.
Karin S. und ihr Mann Klaus sind glücklich an diesem letzten Tag im Februar. Sie strahlen beide. Ihr Sohn ist, nach vierjährigem Martyrium, in eine Schule aufgenommen worden, die Verständnis für ihn hat. Und die in der Gruppe erarbeitete Diät „hat geholfen, obwohl wir das erst nicht glauben wollten“. Sie sind Eltern eines hyperaktiven Kindes. Das Krankheitsbild ist diffus. Ärzte führen es auf die verschiedensten Ursachen zurück. Der Namen, Ursachen und Symptome sind viele: Minimale Cerebrale Disfunktion (MCD), also ein minimaler Hirnschaden, Hyperaktivität, der störende Zappelphilipp, Hypoaktivität, weggetretene Träumerei, Dyskalkulie oder Arithmastesie, die partielle Rechenschwäche.
Monika M. ist neu in der kleinen Eltern-Selbsthilfegruppe des bundesweit organisierten „Arbeitskreises Überaktives Kind“, die sich regelmäßig im Bürgerhaus in Ketsch bei Mannheim trifft. Sie mag noch nicht so recht glauben, daß ihr hier geholfen werden kann. Der Arbeitskreis setzt auf individuell erarbeitete Diät zur Wiederherstellung der von ihm ausgemachten Krankheitsursache, der durch Umwelteinflüsse gestörten Darmflora der Kinder. Die junge Frau neben ihr stammt aus der Türkei. Sie ist kritisch, umweltbewußt und Mutter eines Zappelkindes. Sie nimmt es schon genauer. Die „alten Hasen“ in der Gruppe machen sich zusammen mit ihr auf eine detektivische Suche. Der Speisezettel der Familie wird akribisch durchforstet.
Doch der Weg ist „schwer und langwierig“, sagt Rosemarie Daus, die die Gruppe mit ins Leben rief. „Es braucht unendliche Geduld.“ Als mögliche Verursacher im individuellen Speiseplan werden vorerst einmal Brot und Sonnenblumenöl („Neeiin!“) ausgemacht und von der Speisekarte gestrichen. Im hartnäckigen Fall soll die Ernährung der betroffenen Kinder anfangs „auf Wasser und Weck'“ reduziert werden, aber bitte selbstgebacken und aus Mehl, das auf keinen Fall rieselfähig gemacht ist.
Das Unheil könne im Detail stecken, im Salz, in Brühwürfeln, Milchprodukten – „nichts light!“ –, in Zucker und Industriemehl, Zitrusfrüchten, Nüssen und Ketchup. Und: „Keine Konserven!“ Kleidung, Reinigungs- und Körperpflegemittel, Wohnung und Haustiere sind dabei noch nicht berücksichtigt. Alles kann Auslöser eines Krankheitsschubs sein. Die Kinder, erzählen die Eltern, reagieren auch besonders sensibel auf Ferien, Schulwechsel, Vollmond und Klimastürze. Daus rät: „Sagen Sie den Kindern nicht, was sie alles nicht dürfen. Zeigen Sie ihnen, was sie essen können.“ Und das reicht vom selbstgemachten Bananeneis bis zu Gummibärchenersatz aus eigener Produktion.
Der Weg zu ersten kleinen Erfolgen ist mühsam, das richtige Einkaufen ein aufwendiges Abenteuer. Eine Mutter erinnert sich: „Anfangs habe ich nur geheult.“ Eine Lehrerin weiß, daß das alles nicht durchzuhalten ist, „wenn die Familie nicht mitspielt“. Sie hat es geschafft, die Mehrarbeit auf alle zu verteilen. Problematisch sei es, gerade in ländlichen Gegenden, Ärzte zu finden, die die langwierige Untersuchung der Darmflora befürworten. Mindestens drei Stuhlproben müssen auf Pilzbefall untersucht werden. Der Arbeitskreis darf keine Ärzte empfehlen. Rosemarie Daus rät, beharrlich zu bleiben und dem Hausarzt „die Pistole auf die Brust zu setzen“.
Kinder und Eltern haben dann oft schon einen langen Leidensweg hinter sich, „Psychoterror“ in der Schule, Streit in der Familie, Unverständnis bei Ärzten: „Wir wurden als Sonderlinge und hysterische Querulanten angesehen. Das ist wie ein Berg, der wird immer größer.“ Auch Daus ist, wie sie sagt, „manchmal fast an der Situation verzweifelt“. Die ältere Tochter sei problemlos groß geworden, beim Sohn, dem zweiten von drei Wunschkindern, fingen die Schwierigkeiten an. Zuerst habe sich sich ständig gefragt, was sie bei der Erziehung falsch gemacht habe, als das Kind auffällig wurde. Später stellte sie fest: „Lebensmittelallergiker sind von der Gesellschaft, anders als Neurodermitiker, noch nicht anerkannt. Ihr Fehlverhalten wird nicht richtig als Krankheit eingeordnet.“ Das ist, warnt sie, selbst in der Verwandtschaft schwierig, wenn „zum Beispiel die Oma beleidigt ist, weil sie keine Schokolade mehr mitbringen darf“. Aber die Erfahrungen sind auch positiv. Ein Vater machte die Konzentrationsübungen seines Sohnes mit und stellte fest, daß auch er ruhiger wurde. Außerdem sei es bei ihnen mittlerweile so, daß auch der Verwandtschaft und den Freunden seines Sohnes die Diät schmecke: „Wir müssen ihm jetzt immer das Dreifache mitgeben.“
Die Zahl der AllergikerInnen in der Bundesrepublik ist in den letzten zwanzig Jahren dramatisch angestiegen. Schuppenflechte, Neurodermitis, quälende Juckreize aller Art sind in den Arztpraxen Alltag. Der Katalog der reizauslösenden Stoffe umfaßt nicht nur die gesamte Nahrungsmittelpalette, sondern auch den Sand auf dem Spielplatz. Kinder, auch das steht fest, reagieren darauf empfindlicher als Erwachsene, ihre Organe nehmen mehr Schadstoffe auf. Eine in diesem Jahr veröffentlichte Studie der Universität Bielefeld geht davon aus, daß 37 Prozent aller westdeutschen und 28 Prozent der ostdeutschen Jugendlichen Allergiker sind, oft mehrfach. Damit habe sich die Zahl seit den 50er Jahren fast verdoppelt. Dem Ergebnis liegt die Untersuchung von 2.400 SchülerInnen zugrunde. Über gelegentliche oder häufig wiederkehrende Beschwerden klagten gar fast 40 Prozent. Der Bielefelder Professor Klaus Hurrelmann kam zu dem Schluß, daß es einfach an allem fehle: Soziale, psychische und medizinische Betreuung sei, so ein auf einem Kolloquium verabschiedeter Forderungskatalog, multidisziplinär und unverzüglich erforderlich.
Gemessen an Vergleichszahlen mit Ländern der Dritten Welt, leben bundesdeutsche Kinder trotz Dioxinen, Asbest, Holzschutzmitteln, Autoabgasen in Sportkarrenhöhe relativ gesund. Laut WHO sterben dort jährlich neun Millionen Kleinkinder an Umweltgiften aller Art. Welche Wirkungen die Mixtur der angesammelten Gifte in Körpern von Kindern und Erwachsenen haben kann, ist hier wie dort fast völlig unerforscht. Grenzwerte orientieren sich jedenfalls bis heute nur an der Wirkung der jeweils einzelnen Stoffe auf einen 140 Pfund schweren erwachsenen Menschen.
Die Ernährungstheorien der Selbsthilfegruppen des „Arbeitskreises Überaktives Kind“ sind nicht für alle MedizinerInnen und WissenschaftlerInnen der Königsweg, die Meinungen gehen auseinander. Bisher gebe es, klagen Eltern, nur wenige Ärzte, die sich auf die langwierigen Untersuchungen der Darmflora einließen. Immer noch erhielten Kinder statt dessen Psychopharmaka. Oft falle man auf sich homöopathisch gebende Geldschneiderei herein. Auch über die Ursachen, ob vererbt oder erworben, wird gestritten. Da geben die einen dem exzessiven Fernsehkonsum die Schuld an hypermotorischem Verhalten, andere sehen das Übel in Video- Spielen. Meldungen aus England über epileptische Anfälle und einem Todesfall bei Kindern, die zu intensiv mit dem Gameboy spielten, schreckten die Öffentlichkeit Anfang 1993 auf, der Feuerwehrmann „Super Mario“ avancierte zum Kinderkiller.
Ärzte vermuteten, daß die Ursache der Krämpfe und Ohnmachten durch eine besondere Empfindlichkeit gegen die Lichtblitze der Maschinen ausgelöst wurden. Die Video-Spiele-Hersteller Nintendo und Sega beeilten sich damals zu versichern, daß dafür jeder medizinische Nachweis fehle. Japanische Wissenschaftler hatten schon zwei Jahre vorher festgestellt, daß die Fallreflexe bei Kindern, die zu lange vor der Glotze hocken, erheblich gestört sind. Andere Untersuchungen ergeben, daß sie nicht mehr rückwärts gehen können, ihr Gleichgewichtsgefühl gestört ist, was schlicht bedeutet, daß ihre Fähigkeit, Raumerfahrung in koordinierte Körperbewegung umzusetzen, eingeschränkt ist. Manche Experten deuten diese Sinnesstörungen als Ursache der gehäuft neu auftretenden Rechenschwäche. Schweizer Schulen versuchen, dem Bewegungsmangel der Kinder entgegenzuwirken. Im Kanton Thurgau sitzen die Erstkläßler nicht auf Stühlen, sondern auf hüpfenden Therapiebällen.
Rechnen setzt eine Vorstellung von Raum und Maß voraus. Kinder, die umfallen, wenn sie hüpfen und springen sollen, die sich ständig beim Hinfallen verletzen, die nicht schaukeln können, scheitern schon bei den Grundrechnungsarten. Gleichgültige Eltern, selbst die erste Fernsehgeneration und weder im Umgang mit Medienkonsum noch in Kindererziehung geschult, wurden von Psychologen als Ursache ebenso ausgemacht wie Leistungsdruck mit Schulbeginn, das Fehlen von sozialen nachbarschaftlichen Strukturen und Spielmöglichkeiten sowie der überfüllte Terminkalender schon kleinster Kinder. In einer Diskussion über Gewalt beim Hessischen Rundfunk sagte ein Zehnjähriger, der sich keine Illusionen mehr über die Erwachsenen macht: „Ich bin froh, wenn meine Eltern nicht mit mir reden.“ Ganz vorn in der Hitliste der Freizeitbeschäftigungen der Stubenhocker rangieren Fernsehen und Shopping. Konzentration wird oft als körperlich „zu anstrengend“ empfunden. „Wenn ich lesen soll“, berichtet eine Schülerin, „dann kribbeln mir die Handgelenke.“
Währenddessen beklagen Medienexperten, daß deutsche Schulen meilenweit hinter der weltweiten Entwicklung des elektronischen Lernens hinterherhinken und die „Bewahrpädagogik“ diesen Bereich der unkontrollierten Freizeit überlasse. Sie plädieren für „realitätsbezogene“ und „fächerübergreifende“ Mischformen zwischen Bild und Schrift im Umterricht, die den Kindern „Medienkompetenz“ vermitteln sollen.
Vorsichtigere Gemüter wie der Würzburger Oberarzt Götz-Erik Trott warnen davor, solche Symptome allesamt nur als Folgen der „unruhigen Jetztzeit“ zu sehen. Schließlich sind auch die Großeltern schon allergisch gegen Erdbeeren und Stachelbeeren, gegen Primeln und Kakteen gewesen. Kinder galten als Zappelphilipp oder Hans Guckindieluft, als garstig aggressiver Böser Friedrich oder spindeldürrer Suppenkasper, als mehr oder minder begabt im Lesen, Schreiben und Rechnen. Trott setzt auf medikamentöse Behandlung ebenso wie auf das Ernstnehmen des Kindes, Lob und Ermutigung und die Einbeziehung von Familie und Schule in die Therapie.
Daß alles eine Summe seiner Teile sein könnte, ahnen auch PädagogInnen. Erzieherinnen stellten fest, daß sich ihre Schützlinge in der „freien Natur“ fürchten und ekeln. Sie trauen sich nicht, durch eine regennasse Wiese zu gehen, ihnen wird übel bei der Berührung von feuchtem Laub im Wald, sie grausen sich vor Insekten und Fröschen und haben ständig Angst vor Krankheiten. „Kein Wunder“, sagt eine von ihnen, „die kennen die Natur doch sonst nur aus dem Urlaub als vermeintlich sauberen, weißen Sandstrand.“ In der Küche von Rosemarie Daus riecht es mittlerweile wie in einer ökologischen Landkommune: schrumpelige Äpfelchen und hausgemachte Säfte duften, das Brot ist ofenwarm. „Wenn mich Leute besuchen, zeige ich ihnen immer zuerst die Küche. Dann merken sie, daß sie vor gesunder Ernährung nicht zurückschrecken müssen und daß das auch zum Genuß werden kann.“
Kontakt: „Arbeitskreis Überaktives Kind“, Dieterichstraße 9, 30159 Hannover, Tel. 0511/3632729
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