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Das Zauberwort heißt „mas austral“

■ Südamerikanisches Tagebuch, Teil III: Feuerland Von Sven-Michael Veit

Hier ist alles „das Südlichste der Welt“: Die Imbißbude, der Campingplatz, das Busunternehmen, nichts und niemand kommt ohne diesen Zusatz aus. Gegenüber, auf der Südseite des Beagle-Kanals, auf der Isla Navarino, liegt Puerto Williams. Aber das ist chilenisch, das ist nur ein Kaff, das zählt nicht. Ushuaia aber ist argentinisch, ist eine Stadt, ist la ciudad mas austral del mundo, die südlichste Stadt der Welt, verdad?.

Anfang Februar auf tierra del fuego, auf Feuerland: Hochsommer. Wolken, Regen, Wind, 14 Grad, Schnee auf den Berghängen hinter der Stadt. Am Horizont die Isla Dawson, wo Minister der Allende-Regierung nach dem Militärputsch jahrelang von den Faschisten eingekerkert wurden. Dahinter die Gletscher des campo de hielo, das ewige Eis auf den Anden.

Ushuaia liegt auf 56 Grad südlicher Breite. Geographisch entspricht das der Lage von Kopenhagen, klimatisch ist es wie am Nordkap. Im Süden, hinter Navarino, liegen noch ein paar Inseln, als letzte die Isla de Cabo de Horno, das sturmumtoste Kap Hoorn, dann kommt die Antarktis. Im Norden liegt der Rest der Welt.

Vor ein paar Tagen haben wir die Fähre vom Kontinent über die Magellan-Straße genommen, Delphine begleiteten uns. Ein halber Tag im Bus folgte, auf Schotterpisten über die chilenisch-argentinische Grenze und durch trockene Savanne. Achtzig Jahre brauchten englische Schafzüchter, um das Grasland zur Steppe zu machen und die Indios abzuschlachten.

Die Ona, die Yaghan und die kleineren Stämme sind ausgelöscht. Ein paar Pfeilspitzen und Haushaltsgeräte aus Fisch- und Walknochen erinnern im Museo del fin del mundo von Ushuaia an die Ureinwohner. Und das Original des Wörterbuchs der Yaghan-Sprache von Reverend Thomas Bridges. Der erste estanciero Feuerlands war der einzige Weiße, der sich je mit dieser Sprache befaßte, die Darwin als „primitiv“ verhöhnte.

32.000 Wörter umfaßt das 1898 abgeschlossene Werk, und es wird dem metaphorischen Reichtum der Yaghan-Sprache kaum gerecht. Was nicht so sehr verwundert, da die Yaghan für „Depression“ dasselbe Wort benutzten wie für die empfindlichste Phase im Jahreszyklus von Krabben, wenn sie nämlich ihre alte Schale abgeworfen haben und darauf warten, daß ihnen eine neue wächst. Oder wenn der Begriff weijna so mannigfaltige Bedeutungen hat wie: locker und leicht zu biegen sein; herumirren, herumwandern; locker angebunden sein wie das Auge in seiner Höhle; schwingen, sich bewegen, reisen; existieren, sein.

Die Kolonisatoren der Gegenwart sind Ölkonzerne. Vor der Atlantikküste Feuerlands stehen die Bohrinseln, im Norden der Insel die Raffinerien. Der Ort Rio Grande wuchs in wenigen Jahren von einer windigen Wellblechsiedlung von Ölarbeitern zu einer modernen, sterilen und gesichtslosen Stadt von 25.000 Einwohnern heran. Das Essen im Pub ist amerikanisch (Hamburger), das Bier holländisch (Heineken), die Autowerbung in der ewig dröhnenden Glotze japanisch (Toyota), die Zigaretten an der Bar französisch (Parisienne). C. und ich fragen uns, was wir hier wollen.

Der argentinische Teil Feuerlands ist zollfreies Gebiet. Vom Festland kommen die Kauflustigen mit dem Flieger zum shopping nach Rio Grande und jetten schwerbepackt wieder zurück. Schnaps und Schokolade bekommt man genauso nachgeschmissen wie Kameras und Kühlschränke. Eine Tasse Kaffee kostet hingegen mindestens zwei Pesos, etwa 3.50 Mark. Unsere Postkarten nach Europa werden für 46 Centavos befördert, die Karte selbst kostet mehr als das Doppelte.

Ushuaia, die windige Stadt am Ende der Welt, ist voller mittelalterlicher Touristen auf Landgang. Gestern abend lief ein italienisches Kreuzfahrtschiff auf dem Rückweg aus der Antarktis in den Hafen ein, heute morgen kam die deutsche „Europa“ hinzu. Ein russisches Schiff, das auf seinen Versorgungsfahrten zur russischen Antarktis-Station Passagiere mitnimmt, liegt auf Reede, sein kanadisches Pendant ist gestern abgedampft. Für morgen ist der spanische Kreuzfahrer „Vistamar“ avisiert: Der Antarktis-Tourismus boomt.

In Reisebüros werden Restplätze für vergleichsweise wenig Geld angeboten: 14 Tage Antarktis und Falkland-Inseln für 2.800 Mark mit Vollpension und Vollunterhaltung, feilschen möglich. C. und ich diskutieren und rechnen zwei Tage lang: Wo wir schon mal hier sind, so eine Gelegenheit kriegen wir nicht wieder. Geldbeutel und Gewissen siegen schließlich, wenigstens die Antarktis, finden wir, sollte man in Ruhe lassen. Im Bewußtsein, keine gewöhnlichen Touris zu sein, behandeln wir bepelzte Landgänger künftig mit Herablassung und erforschen lieber Feuerland.

Der Süden der Insel ist noch immer waldreich. Birken, Kiefern, kleinblättrige Südbuchen und mehrere einheimische Nadelbaumarten, die uns unbekannt sind. Fast alle sind von einer Flechte okkupiert, der barba del viejo. Die graugrünen „Greisenbärte“ hängen wie meterlange Vorhänge von den Ästen herab – ein Märchenwald voller Überraschungen: Zweimal begegnen uns Gruppen von periquitos, kleine Papageien, die krakeelend durch den Wald toben. Sie sind blasser gefärbt als ihre Vettern in den Tropen, aber genauso neugierig und schwatzhaft. Und wir treffen auf Tümpel und Sümpfe mit Knüppeldämmen und -burgen: El castor, der Biber, vor 70 Jahren aus Kanada importiert, hat weite Teile des Waldes im Süden Feuerlands umgestaltet. Nach seinen Bedürfnissen, denen von el castor - mas austral del mundo, versteht sich.

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