piwik no script img

Die sich in den Tunnel einbrachten

„Codex“ von Moving M3 im Lindentunnel: Körperorientiertes Theater hin oder her, Szenen wie „Knack den Sehnsuchtscode“ ernten nicht immer die ganze Aufmerksamkeit, andere Details dafür um so mehr. „Ach“, sagt dazu  ■ Thorsten Schmitz

Ähm, ja, war da was? Es hat nicht lange gedauert, vielleicht fünfzig Minuten. Wenn ich das nur wüßte! Nichts verpufft schneller als die Erinnerung an Kino- und Theaterabende, an Szenen und Augenblicke. Manchmal bleibt etwas haften, was man mit sich herumtragen kann. Die Erinnerung an „Codex“ des Off-Off-Off-Theater-und-performance-grüppchens „Moving M3“ erlischt in Lichtgeschwindigkeit. Daher, raschrasch, ein paar Anmerkungen, bevor selbst die nicht mehr möglich sind.

Im Lindentunnel war's, ja genau, der Ort ist noch ganz präsent, weil der das spannendste war. (Die „Moving M3“-Combo bezeichnet ihn in einer Presseerklärung als „abstoßend“.) Von 1914 bis 1916 baute man den Tunnel als Straßenbahnunterführung. Der Zweite Weltkrieg machte den Konstrukteuren aber einen Strich durch die Rechnung: er wurde durch Bomben zerstört. Und als die DDR noch so richtig lebte, dienten die betonierten Röhren Unter den Linden einer Art Eingreiftruppe, dem „Sicherheits- und Ordnungsdienst“. Aber damit hat „Codex“ überhaupt nichts zu tun, ich schwör's, ich war ja da.

Zwar wird behauptet, der „abstoßende“ Tunnel stelle „ein grundlegendes Moment der Inszenierung“ dar, doch das ist gelogen. „Codex“ ist von geradezu universeller Allgemeinheit; der Ort spielt gar keine Rolle. Am schönsten ist „Codex“ dann, wenn man sich gar nicht erst die Mühe macht, dieses „raumbezogene Körpertheater“ zu erfassen, sondern den Tunnel betrachtet, rumguckt und versucht, dessen Vergangenheit zu phantasieren.

„Raumbezogenes Körpertheater“. Allein das hätte schon mißtrauisch machen müssen. Gemeint ist damit: Zwei Frauen spielen 14 kurze Szenen, die alle unter dem Rubrum „Code“ laufen wie etwa „Sex, ich freß dich“ oder „Du hier“ oder „Knack den Sehnsuchtscode“. Ach. Astrid Völker und Carola Finke, zwei selbsterfahrene ausgewachsene Pippi Langstrumpfs, schaben an den Lindentunnelwänden entlang, verrenken sich roboterhaft zuckend, gucken gaaanz ernst und konzentriert, und das spärlich erschienene Publikum guckt auch gaaanz konzentriert auf die Türen, die sich plötzlich öffnen und in denen eine der Frauen im roten Overall kopfüber hängt. Wird sie gefoltert? Und manchmal rennen die beiden Frauen, die immer dreckiger werden: So macht sich der Tunnel bemerkbar und nicht sie ihn. Es ist ihnen egal, wo das Publikum steht, sie tun so, als gäbe es das gar nicht. Ein Rätsel, warum sie es überhaupt eingeladen haben. Diese „unverwechselbare Arbeits- und Ausdrucksweise, die Moving M3 innerhalb der Berliner Off-Theaterszene ein markantes Profil verleiht“ („Moving M3“ über „Moving M3“), in Wahrheit eine Mischung aus esoterischem Aerobic und rhythmischer Psychomotoriktherapie, ist privates Selbsterfahren nach dem Motto: „Du, ich bring mich jetzt mal in den Tunnel ein und versuche, die Wand in und an mir zu spüren“.

Die Rettung besorgen zwei Musiker von „Mela Ena“ und der Cello-Single: Ihre Töne sind das Zuckerbrot, wenn das bedeutungsschwangere Gehopse und die leere Gymnastik der Frauen die Peitsche sind. Einen besonderen Dank möchte ich an dieser Stelle einem älteren Mann und seiner älteren Frau aussprechen. Sie waren vermutlich Vater und Mutter eines „Moving M3“-Mitglieds und aus elterlicher Pflicht vorbeigekommen. Die Frau saß an an diesem Abend auf dem einzig verfügbaren Stuhl und hatte alle Mühe, den immer in die richtige Position zu rücken. Man stelle sich also vor, eine beleibte kleine Mutter, vielleicht 55, die eine knappe Stunde damit verbringt – den Stuhl in der einen, die Handtasche in der anderen –, den besten Blick zu erhaschen. Damit war sie beschäftigt, vollauf. Und niemand wird es ihr übelnehmen, daß sie bereits nach zehn Minuten ein herzhaftes Gähnen nicht zu unterdrücken vermochte. Deshalb jetzt ein kleiner Applaus für die eigentliche Hauptdarstellerin: die Stuhl-Frau.

Noch bis 24.4., Mi-So, 20.30 Uhr, Lindentunnel, Clara-Zetkin- Straße 15, Mitte

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen