: Werteorientierung oder Schulreform?
■ Die Schulreform ist zwar tot, aber notwendig / Klaus Holzkamp, Kritischer Psychologe, trägt seine Thesen in die Lehrerschaft / Die Schule muß von ihren disziplinären Beschränkungen befreit werden
„Daß man mit Schulreform momentan keinen Wahlkampf gewinnen kann, da würde ich Ihnen zustimmen“, meinte eine Diskutantin. „Aber mit Bildungsfragen werden im Wahlkampf Punkte gesetzt!“ Nämlich unter den Stichworten „Werteorientierte Schule“, „Zurück zum Gymnasium“ und „Standort Deutschland“.
Klaus Holzkamp, der inzwischen emeritierte Begründer der Kritischen Psychologie, hatte gerade im Friedrichshainer „Institut für politische Bildung“ sein neues Buch „Lernen“ vorgestellt. Wieder einmal nahm Holzkamp den Diskurs mit Pädagogen aus Wissenschaft und Praxis auf. Er mißbilligte, daß die dringend notwendige Schulreform „wieder tot“ sei. In seiner Analyse der Schule kommt er zu dem Ergebnis, daß die „Verwahrlosung der schulischen Lernkultur mit der ,disziplinären‘ Verfaßtheit der Schule notwendig mitgesetzt ist“. Die Schule könne sie nur überwinden, wenn sie die Schuldisziplinen verlasse.
Holzkamp setzt an folgendem Widerspruch an: Einerseits gehen das offizielle Selbstverständnis der Schule sowie die gängigen Lerntheorien davon aus, daß sich im Unterricht tatsächlich Lernziele verwirklichen lassen (seien diese nun konservativ oder progressiv). Andererseits ist allgemein bekannt, daß es in der Praxis für die Schüler (und Lehrer) zumeist nur darum geht, „die Lebenssituation ,Schule‘ möglichst unbeschadet zu überstehen.“
„Lernen“, betrachtet aus der Schülerperspektive
Klaus Holzkamp versucht nun, dieses konflikthafte Verhältnis von Lernzielen und tatsächlichen Lernaktivitäten der Schüler zu klären, anstatt Lehren und Lernen gedanklich kurzzuschließen. Deshalb untersucht er das Lernen in der Schule konsequent vom „Standpunkt des Lernsubjekts“, also aus der Perspektive der SchülerIn. Diesen Ansatz bezeichnet der Emeritus als „subjektwissenschaftliche Lerntheorie“. Die Grundgedanken stellte er vor, indem er sie von typischen Mißverständnissen und Fehldeutungen abgrenzte.
So unterscheidet Holzkamp zwischen „expansiv“ und „defensiv“ begründetem Lernen, womit freilich nicht zwei „persönliche Lernstile“ oder bestimmte Schülergruppen gemeint seien. Vielmehr geht es hier um situationsbezogene Lerngründe. Sie richten sich auf die Erweiterung der eigenen Handlungsfähigkeit oder bloß auf die Abwehr von angedrohten Sanktionen. Die Schuldisziplin mit Rangordnung, Zeitraster, Überwachung und allgegenwärtiger Bewertung drängt zu defensivem Lernen, bis hin zur Vortäuschung von Lernerfolgen.
Das aus Pädagogen und Lehrern bestehende Publikum stimmte in der Diagnose überein und suchte nach Konzepten für Auswege für die Lehrtätigkeit. Bereits auf einer gleichartigen Veranstaltung im Potsdamer „Interdisziplinären Zentrum für Lern- und Lehrforschung“ hatte Holzkamp eingeräumt, in seinem Buch sei „der Subjektstandpunkt des Lehrenden unterbelichtet“. Gleichwohl schafft das Buch die Voraussetzungen dafür, die Rolle des Lehrenden nicht bloß als Vollstrecker von Lehrplänen, sondern als Unterstützer der Lernaktivitäten der Schüler zu fassen: Der Lehrer könnte mir als SchülerIn „durch seine Fragen herauszufinden helfen, wo ich was nicht kapiere und wie ich darüber hinwegkommen kann; er könnte mich durch die Art seiner Problematisierungen daran hindern, mir was vorzumachen“.
„Vorauswissen“ erschlägt
Das aber setzt eine andere Art von Unterricht voraus: Dafür müßte dieser so organisiert werden, daß er nicht auf vorauswissenden Lehrerfragen beruht. Sondern es müßten echte, wissensuchende Fragen von Schülern und Lehrern unbeschränkt zugelassen sein. Dann wäre es für Lehrer auch möglich, die „springenden Punkte“, an denen es im Verständnis der Schüler hakt, „zu erfragen, sie nicht totzuschlagen durch ein vermutliches Vorauswissen“. Und auf solche Fragen könnten die Schüler „jenseits der Schuldisziplin“ ehrlich antworten, anstatt aus Furcht vor Sanktionen Wissen vorzuspiegeln.
Einzelne Lehrer stoßen bei solchen Versuchen schnell an enge Grenzen, die sich nur auf der politischen Ebene überwinden lassen. So bedürfe es zwar schon „bestimmter Leitlinien, was eigentlich begriffen werden soll“. Die starren Lehrpläne jedoch ließen derartig offene Unterrichtsformen nicht zu. Die jüngsten, wenn auch sehr zaghaften Ansätze in dieser Richtung fänden sich in den neuen Schulgesetzen Hessens und Brandenburgs. Lars Vogelsang
Klaus Holzkamp: „Lernen“, Subjektwissenschaftliche Grundlegung, Frankfurt a.M./New York, Campus 1993, Ln., 98 DM. Der Vortrag wird voraussichtlich im „Forum Kritische Psychologie“ veröffentlicht.
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