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Die Hütte war ein Schafhirte

Profane Äpfel statt Vaters Pfeife, Aktmodelle hinter depressiven Selbstportraits: In Amsterdam werden der Weltöffentlichkeit heute erstmals sensationelle Röntgenbilder zu entscheidenden Werken von Vincent van Gogh gezeigt  ■ Von Stefan Koldehoff

In der Rubrik „Vermischtes“ taucht die Meldung so regelmäßig auf wie neueste Nachrichten vom schottischen Loch Ness: Vorzugsweise im Sommer geben selbst seriöse Zeitungen in großen Schlagzeilen die Entdeckung neuer Werke bekannt, die angeblich aus der Hand Vincent van Goghs stammen sollen. Tatsächlich erweist sich die vermeintlich millionenschwere Sensation in der überwiegenden Zahl aller Fälle als schnell zerplatzende Seifenblase (vgl. taz vom 19.11. 1992). Gerade einmal fünf Werke haben die unabhängigen Experten des Rijksmuseums Vincent van Gogh in Amsterdam in den vergangenen zehn Jahren nach aufwendigen materialtechnischen und stilistischen Prüfungen als authentisch anerkannt. Trotzdem findet ausgerechnet in der Hochburg der Van- Gogh-Forschung heute eine internationale Pressekonferenz statt, bei der die Mitglieder des im Museum zur Neuerarbeitung des Werkeverzeichnisses gebildeten Van Gogh Research Project die Entdeckung von gleich 19 Van-Gogh- Gemälden bekanntgeben, die seit mehr als 100 Jahren niemand mehr gesehen hat.

Unsichtbar bleiben die Bilder auch in Zukunft, sie liegen unter dicken Schichten aus Firniß und Farbe verborgen: van Gogh selbst hat alle 19 noch zu Lebzeiten übermalt. Entdeckt wurden sie nur, weil die Amsterdamer Forscher im Rahmen ihrer Untersuchungen etwa 130 in der eigenen Sammlung befindliche Gemälde aus der Frühzeit des Malers in den Niederlanden, in Antwerpen und Paris röntgen ließen. Der Maler selbst gab zu Lebzeiten nur ein einziges Mal zu, daß er eines seiner eigenen Werke zerstört hatte. „Ich hätte sehr gern, daß Du die beiden Bilder firnißt“, schrieb Vincent van Gogh im Juli 1885 aus dem holländischen Nuenen, als er zwei Leinwände an den Bruder Theo in Paris schickte. „Das mit der Hütte war ursprünglich ein Schafhirte.“ Weitere Hinweise auf Übermalungen im Werk Vincent van Goghs gibt es in seinen Briefen nicht.

Ringen um wirtschaftlichen Erfolg

Entsprechend groß war die Verblüffung, als in Amsterdam die entwickelten Röntgenaufnahmen auf dem Leuchttisch lagen. „Mit ein oder zwei Übermalungen hatten wir gerechnet“, erinnert sich Sjraar van Heutgen, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Van Gogh Research Project, „aber nicht mit 19. Was uns jetzt vorliegt, gibt eine ganze Reihe völlig neuer Erkenntnisse über die Arbeits-, aber auch über die Lebensumstände von Vincent van Gogh.“ Daß der von den Kunstsammlern seiner Zeit wenig geschätzte Maler unter chronischem Geldmangel litt, geht schon aus seinen Briefen deutlich hervor: Immer wieder bat er darin seinen Bruder um Geld, Leinwand und Farbe. Daß Vincent auch während der Zeit, in der er in Paris eine Wohnung mit Theo teilte, unter Materialmangel litt, mag der eine Grund dafür sein, daß er seine eigenen Bilder unter neuen Motiven verschwinden ließ. Den anderen sieht Sjraar van Heutgen im ständigen Bemühen, für seine Werke auch Käufer zu finden: „Das Bild vom einsamen Kämpfer, der nur für sich selbst malte, stimmt einfach nicht. Van Gogh wollte künstlerische Anerkennung, und er wollte auch wirtschaftlichen Erfolg haben. Wir haben jetzt die bildnerischen Belege für die hohen Ansprüche, die Vincent van Gogh schon in seiner frühen Schaffenszeit an sich selbst gestellt hat. Und wir wissen, daß viele Werke, die er in seinen Briefen erwähnt, nicht verschollen sind, wie wir bisher dachten, sondern daß er selbst sie durch Übermalung ganz bewußt vernichtet hat.“

Beide Erkenntnisse treffen auf ein besonderes Blumenstilleben zu, das Vincent van Gogh im März 1885 unmittelbar nach dessen Tod als Hommage an seinen Vater malte. Zwischen Pastor Theodorus van Gogh und seinem Sohn Vincent hatte es vor allem über dessen unorthodoxen Lebenswandel häufig Streit gegeben. Das Hochformat, das Vincent van Gogh dennoch für den toten Vater malte, war bislang nur aus der Skizze in einem Brief an Theo van Gogh vom 5.April des Jahres bekannt gewesen, in dem Vincent van Gogh das Gemälde auch beschreibt: „Anbei eine Skizze von einem Männerkopf und eine von einem Stilleben mit Judaspfennigen in derselben Art wie das, das Du mitgenommen hast. Es ist noch etwas größer. Und die Gegenstände im Vordergrund sind ein Tabaksäckchen und eine Pfeife von Pa. Wenn Du es vielleicht haben willst, kannst Du es natürlich sehr gern haben.“ Seither galt das Bild als verschollen.

Nun steht fest, daß Vincent van Gogh das Werk schon bald nicht mehr gefallen zu haben scheint, wie Sjraar van Heutgen meint: „Wahrscheinlich hat er es zu überladen gefunden. Aus dem Röntgenbild, das uns jetzt vorliegt, geht hervor, daß Vincent van Gogh mit der Vase und den Blumen begonnen hat, dann malte er die Pfeife und die Rauchutensilien und ergänzte schließlich noch verschiedene Einzelteile, bis er schließlich die Schlichtheit des eigentlichen Motivs zerstört hatte. So entschloß er sich im September des Jahres 1885, die Hommage an den Vater mit einem profanen Apfelkorb zu übermalen.“ Ähnliche Motive müssen auch bei der Übermalung einer „Montmartre-Landschaft mit Windmühle“ eine Rolle gespielt haben, von der jetzt feststeht, daß Vincent van Gogh sie 1866 schon kurz nach der Fertigstellung mit einem „Selbstportrait mit Filzhut hinter einer Staffelei“ neu übermalte.

Wer ist die schöne Unbekannte?

Keine stilistischen, sondern persönliche Gründe vermuten die Amsterdamer Forscher bei zwei delikateren Bildübermalungen. Aus dem Frühjahr 1886 muß ein Portrait datieren, das heute ebenfalls nur noch auf dem Röntgenfoto sichtbar ist. Vincent van Gogh malte das Bildnis der attraktiven Frau mit langen, für das Bild aber hochgesteckten dunklen Haaren während seiner Zeit in Paris. Frontal abgebildet, hat die Frau die linke Brust entblößt. Sie weist Ähnlichkeit mit einem Modell auf, das Vincent van Gogh im Atelier Cormon dreimal als liegenden Ganzkörperakt gemalt hat. Schon in diesen drei Bildern, von denen der mit seinem Namenszug äußerst sparsame van Gogh zwei mit „Vincent“ signierte, fällt die Intimität der Darstellung auf. Zeitlich paßt das nun entdeckte Brustbild genau zu den drei Akten, motivisch zeigt die Frau auf allen vier Bildern eine ähnliche Physiognomie, lange dunkle Haare und eine auffallend breite Nase. Ihr nun entdecktes Portrait allerdings übermalte Vincent van Gogh schon nach kurzer Zeit mit einem „Selbstbildnis mit Pfeife“. Wo vorher die nackte Brust der Frau war, schwebt vor van Gogh nun ein Wasserglas auf einer angedeuteten Tischfläche mitten im Raum. Es scheint, als habe der Maler gefürchtet, sein ursprüngliches Motiv könne durchscheinen. Auch der schlechte Erhaltungszustand des Selbstportraits läßt darauf schließen, daß die neue Farbe zu schnell, zu naß und schlecht deckend aufgetragen wurde. Im Frühjahr 1887 überarbeitete van Gogh die Leinwand noch einmal, um sie anschließend zu signieren und zu datieren. Wer aber die schöne Unbekannte darunter ist, bleibt bei dieser Übermalung ebenso ein Rätsel wie bei einem zweiten frisch entdeckten Frauenportrait, das aus derselben Zeit in Paris stammen muß.

Diesmal portraitierte Vincent van Gogh eine Frau mit ebenfalls hochgestecktem Haar, freiliegenden Ohren, einem großen runden Mund und hochgezogenen Augenbrauen. Auch dieses Bild zeugt von starkem inneren Engagement van Goghs, der sein Modell – anders als etwa die Bauern seiner holländi

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schen Jahre – nicht mehr nur als Typ, sondern als ein Individuum zeigt, dem er selbst offenbar viel Sympathie entgegenbringt. Bemerkenswert ist, daß van Gogh ausgerechnet dieses Portrait mit dem einer anderen Frau überdeckte. Im März 1887 benutzte er dieselbe 60 mal 47 Zentimeter große Leinwand, um die Wirtin Agostina Segatori an einem Tisch ihres „Café du Tambourin“ auf dem Boulevard du Clichy zu malen. Mit „La Segatori“ war Vincent van Gogh bis zum Sommer des Jahres sehr eng befreundet. Möglicherweise übermalte er deshalb eine alte Liebe, um die neue zu würdigen.

Mit die spannendste Entdeckung unter den Amsterdamer Röntgenbildern betrifft schließlich das nach bisheriger Einschätzung im Frühjahr 1886 entstandene „Selbstportrait mit dunklem Filzhut“. Es galt bislang als früheste Selbstdarstellung des Malers und war als solche auch auf zahlreichen großen Ausstellungen – zuletzt in Paris und Tokio – zu sehen. Schon immer barg diese Leinwand aber eine ganze Reihe von unbeantworteten Fragen unter der Oberfläche. So blieb beispielsweise unklar, ob das in erdigen Brauntönen gehaltene Selbstportrait tatsächlich erst in Paris oder möglicherweise noch in Antwerpen oder Holland entstanden sein könnte. Die sehr traditionelle Malweise ohne pastose Pinselstriche paßt nicht zur erheblich heftigeren Malweise, derer sich van Gogh schon in dieser Zeit bediente.

Selbstportrait von fremder Hand?

Untypisch ist neben der Augen-, Wangen- und Mundpartie auch die nahezu unmodellierte und flächige Kleidung wiedergegeben. Der Hintergrund des Bildes wurde, anders als bei den meisten Bildern dieser Zeit, nicht strukturiert. Zweifel gab es zudem schon früh an der Identität des Abgebildeten, dessen Nase bei Frontalansicht merkwürdig schief im Gesicht saß. Bereits mehrfach haben mehr oder minder seriöse Experten den Verdacht geäußert, bei der immer im Besitz der Familie van Gogh befindlichen Leinwand handele es sich um ein Portrait, das ein unbekannter Maler von Theo van Gogh gemalt habe. Die beiden Brüder sahen sich nach Aussagen von Zeitgenossen sehr ähnlich.

Die Röntgenaufnahme zeigt nun unter dem Portrait einen dilettantisch hingepinselten Frauenakt mit abgewinkeltem Arm in Ganzansicht. Die Frage der Datierung beantwortet die kraftlose Frauengestalt nicht: Sowohl in der Akademie von Antwerpen als auch im Pariser „Atelier Cormon“ malte van Gogh nach lebenden Modellen. Mit allen aus dieser Zeit hat das jetzt entdeckte Röntgenbild allerdings nicht die geringste Ähnlichkeit – das bestätigt man inzwischen auch im Van Gogh Research Project. In Amsterdam denkt man deshalb über eine Neubewertung des Selbstbildnisses nach.

Das Rijksmuseum Vincent van Gogh wäre nicht das erste renommierte Kunsthaus, das sich nach dem Röntgen von einem van Gogh zugeschriebenen Selbstportrait verabschieden müßte. Bereits vor drei Jahren gab die Österreichische Galerie in Wien nach einschlägigen Untersuchungen zu, daß sie sich 1964 von dem Bregenzer Sammler Dr. Karl Ölz eine Fälschung andrehen ließ. Auslöser war auch damals ein Röntgenfoto, es zeigte unter dem falschen van Gogh das Portrait eines alten bärtigen Mannes. Fiele das fragwürdige Amsterdamer Gemälde als erste Eigendarstellung van Goghs aus, dann würden an seine Stelle eben jene beiden Bilder treten, die sich durch die Röntgenfotos gerade als Übermalungen herausgestellt haben. Vincent van Goghs erste Selbstportraits wären also vor allem entstanden, um unzulängliche Motive abzudecken – das eigene Gesicht als Notlösung.

Zur Zeit sind die Foto-Reproduktionen der durchleuchteten Bilder im Amsterdamer Rijksmuseum, Paulus Potterstraat 7, zu sehen. Telefonische Infos unter 0031- 20 205 70 52 00.

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