Peng oder Menschen wie du beziehungsweise ich Von Claudia Kohlhase

Komme mir keiner. Und sage, das Leben sei langweilig und man müsse Bungee-Springen oder U-Bahn-Surfen. Wer aber unbedingt so was tun will, der surfe doch mal auf der Aura seiner Mitmenschen. Kommt da zum Beispiel ein Pärchen den Bordstein entlang. Ist natürlich noch kein Abenteuer, klar.

Aber da: als die beiden seitlich auflaufen, schwappt ein frei fliegender Satz herüber, der geht so: „Du, ich wußte einfach nicht mehr, was ich machen sollte, da hab' ich ihn erschossen.“ Peng. Der zweite Gedanke: oha-oha-oha. Dann sammelst du all deine geistige Gegenwart und denkst hilflos: wahrscheinlich der Wellensittich, es war der Wellensittich. Hat vielleicht nicht mehr fliegen können, der Arme. Altersschwäche. Orientierungs- und Federverlust. Aber insgesamt hat es dir natürlich den ganzen inneren Zusammenhang verschlagen und deine eben noch so sichere Position im Hier und Jetzt zerbröselt. Ein Mörder ging an dir vorbei, denkst du als nächstes, ein munterer Mörder. Mein Gott, wie sah er aus? Womöglich typisch. Die Haare vielleicht fettig. Wahrscheinlich mit oder ohne Bart. Die Hosen zu lang und zu eng. Das Hemd mit zu großem Kragen oder extra normal klein. Saubere Schuhe, knurrende Absätze. So was Blödes im Prinzip: da begegnet dir ein Mörder, und du schaust nicht hin! Sonst wüßtest du jetzt ein für allemal, wie Mörder aussehen.

Vorsichtig bleibst du etwas stehen und wendest den Kopf um eine Vierteldrehung – bei einem Mörder weiß man ja nie. Der hat doch Tatwaffen dabei und fühlt sich schnell verfolgt. Aber schon hat er sich zielstrebig entfernt und läuft längst Richtung Kreuzung mitsamt seiner Begleiterin. Polizei, Polizei! ruft auf einmal der kleine Verkehrskasper in dir und schaut sich ersatzweise nach denunziatorisch physiognomierten Passanten um. Aber eigentlich bist du ja doch nicht so kleinlich oder ordnungsmächtig veranlagt, und sowieso verschwinden die beiden gerade im Dickicht der Großstadt. Erschossen! Am Ende einfach so. Brutal. Kaltblütig. Und läuft jetzt hier über Kreuzungen und an dir vorbei mit deinem Kilo Möhren und dem Schwarzbrot. Wofür ernährt man sich da gesund, wenn einen der erste beste über den Haufen schießen könnte, bloß weil ihm deine Möhren ins Auge stechen. Oder es war Notwehr. Wahrscheinlich sogar. Der Exfreund der Geliebten, die gerade an der Seite ihres neuen Freundes ein neues Leben beginnen wollte, hat zuerst gezogen. Oder es war Vatermord. Längst überfällig. Altes Nazischwein. Sowieso schon 87. Und der Sohn aus Versehen Zorro. Was weißt du schon, wie viele Zorros täglich an dir vorbeilaufen, innerlich die Pistole im Anschlag, da vorne kommt wahrscheinlich wieder einer. Vielleicht stirbt überhaupt niemand eines natürlichen Todes. Was haben sie eigentlich mit der Leiche gemacht? Gottogott, so weit ist es schon mit dir gekommen, daß du laut das Wort Leiche denkst.

Gesetzt den Fall, es war nicht doch der Wellensittich oder irgendein krummer Hund. Und so läufst du, von einer Sekunde zur andern kriminell verwickelt, ein wenig strauchelnd die Straße entlang. Und möchtest dich redlich schlecht fühlen. Und merkst auf einmal, daß das gar nicht so einfach ist: Immerhin hat sich ja dein Wortschatz erweitert, wenn nicht dein Horizont.