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Keiner zu Hause

Die Pomp-Rocker Pink Floyd kennen heute vor allem Volkswagen-Kunden. Aber wer weiß, wo Syd Barrett lebt?  ■ Von Johann Aho

Alles ganz anders. Oder doch so: Ein Hotel in Cambridge. Ab und zu hat der Geschäftsführer Besuch von seinem Schwager. Eigentlich ohne Grund kommt der dann vorbei, setzt sich in das Büro und ist eben einfach da. Im Zimmer taucht nur die Lampe auf dem Schreibtisch den Hotelier und seinen Gast, der – das ist ungefähr eine halbe Ewigkeit her – einmal ein berühmter Rockstar war, in einen Anschein von Licht.

Wie gesagt: Vielleicht war alles ganz anders. Doch in dieser Version m u ß es einfach so sein, daß in einer Ecke des Raums eine alte Gitarre an der Wand lehnt. Als es an der Rezeption klingelt, verläßt der Hotelier das Büro. Nach wenigen Minuten kehrt er zurück, und die Gitarre befindet sich nicht mehr an ihrem Platz. Roger Keith Barrett, den früher alle nur Syd genannt haben – das war, als er Sänger und Gitarrist, Texter und Komponist der Popgruppe Pink Floyd war – hält sie, um ganz leise und zaghaft eine Melodie darauf zu spielen. In der Sekunde, in der er merkt, daß er nicht mehr allein ist, läßt er die Gitarre fallen.

Staub und Gitarren

Fast zwei Jahrzehnte davor, Anfang der siebziger Jahre: „Ich bin voller Staub und Gitarren“, erzählt Syd Barrett. Er hat sich nach Cambridge zurückgezogen. In London heißt es, er sei tot. Ein anderes Gerücht sagt, er befinde sich in einer geschlossenen Anstalt. Ein Freund aus vergangenen Studententagen hat ihn schließlich dort gefunden, wo man einige Jahre zuvor nach Konzerten an der Kunsthochschule den angebrochenen Abend angetörnt abschloß: im Keller des Barrettschen Elternhauses. Anonym, als sei er ein aus Amerika angereister Reporter, berichtet er in der Zeitschrift Rolling Stone über das Zusammentreffen. „Wenn man ihn besucht, ist das wie ein Einbruch in eine sehr private Welt.“ Und Syd Barrett sagt: „Ich gehe verloren, weiche fast allem aus. Meistens vertue ich meine Zeit. Alles, was ich als Kind tun wollte, war, ordentlich Gitarre zu spielen und herumzuhüpfen. Junge Leute sollten Spaß haben, ich habe wohl nie welchen gehabt.“

Weitere vier Jahre vorher, am Abend des 2. Juni 1967: Genau zu der Zeit, als in Berlin der Schah von Persien mit vielen Ehrengästen in der Oper die „Zauberflöte“ sieht und auf einem Garagenhof der Krummen Straße ein Polizist den 26jährigen Studenten Benno Ohnesorg tötet, erwarten im Londoner Ufo-Club in der Tottenham Court Road „glückliche junge Menschen, die Räucherstäbchen schwenken“ (so der Melody Maker über das Publikum von „Englands erstem psychedelischem Club“), den Auftritt der Underground- Popgruppe Pink Floyd.

14-Stunden- Technicolortraum

Die Band besteht aus dem Schlagzeuger Nick Mason, 22, dem Organisten Rick Wright, 21, dem Bassisten Roger Waters, 22, und dem Gitarristen Syd Barrett, 21. Wer etwas auf sich hält in der Welt des Londoner Musikbusineß – Pete Townshend und Eric Clapton, Jimi Hendrix, Paul McCartney, um nur einige zu nennen –, ist im Ufo an diesem Abend. Obwohl am Tag zuvor die Beatles das Album „Sergeant Pepper's Lonely Heart Club Band“ veröffentlicht haben – das Ereignis der Saison sind die Pink Floyd.

Und im Mittelpunkt der Band steht Syd Barrett, „von dessen Songs und Persönlichkeit die ganze Sache lebte“, so der britische Künstler Pete Brown. Noch Jahre später wird David Bowie sagen, Pink Floyd sei für ihn Syd Barrett gewesen.

Wie Hymnen lesen sich Konzertberichte aus jenen Tagen, etwa über den „14 Hour Technicolour Dream“ am 29. April 1967: „In einem magischen Moment der Zeitlosigkeit kamen die Pink Floyd heraus. Ihre Musik war schaurig, feierlich und besänftigend... Syds Augen leuchteten, während seine Noten dem heller werdenden Licht entgegenstiegen und die Strahlen der aufgehenden Sonne sich in seiner berühmten verspiegelten Telecaster reflektierten.“

Nur wenige Wochen später ist es vorbei mit dem Leuchten. Joe Boyd, der in der Anfangszeit Produzent von Pink Floyd war, erinnerte sich später noch genau an das Konzert im Ufo: „Ich begrüßte alle von der Band, und der letzte war Syd, und das Besondere an ihm war, als ich mit ihm an ,Arnold Layne‘ gearbeitet hatte und in der Anfangszeit vom Ufo, naja, das, woran man sich immer erinnerte, war dieses Blitzen in den Augen, ein richtig spitzbübisches Funkeln. Er hatte so einen schelmischen Blick. Und er kam vorbei, und ich sagte: ,Hi, Syd‘, und er sah mich nur an. Ich sah ihm direkt in die Augen, und da war kein Funkeln, kein Leuchten. Es war, als hätte jemand die Jalousien heruntergelassen – keiner zu Hause.“

„Erst im nachhinein wird klar“, hat Nicholas Schaffner in seinem Buch „Saucerful of Secrets“ geschrieben, „daß in jenen Tagen Syd Barretts Zusammenbruch begonnen hatte.“ Nur noch wenige Monate verbleiben, dann wird Dave Gilmour, 21, ein Freund von Syd Barrett seit der Jugend, Gitarrist der Gruppe werden. Am 6. April 1968 gibt die Pink-Floyd-Firma „Blackhill Enterprises“ bekannt, daß Syd Barrett die Band „verlassen“ hat.

Abschweifung 1

Ein Sommer wie der wird nicht mehr. Den dritten Tag fuhren wir durch das Gebirge. Ohne Ziel und mit dem Wissen, eigentlich ganz woanders zu sein. Die Gedichte, mit denen die Jugend vergraben worden war, hatten wir suchen wollen.

Ich schwöre, wir hätten wirklich überall hinkommen können. Irgend etwas muß uns geleitet haben, daß wir ausgerechnet an diese Grenze gelangten. Überall die Geschäfte. Als wir wieder beim Auto waren, hatte jemand in den Staub auf der Karosserie geschrieben: „Someday, somewhere (not here), something“.

Beinahe hätte das uns den Rest gegeben, jedenfalls konnte ich erst einmal nicht weiterfahren. Dann sind wir in das Restaurant, von dem man in das Tal sehen konnte, gegangen und haben gegessen. Nur deshalb kam es dazu, daß ich später das Autoradio angestellt habe, als gerade dieses Lied zu hören war: „You and I in place / Wasting time on dominoes / A day so dark, so warm / Ah, life that comes and goes, on, on / You and I and dominoes, time goes by“.

In dem Moment war klar, daß das Leben zuweilen nichts anderes ist als eine Reihung von Zufällen. Doch „Das Wort Zufall ist Gotteslästerung“, läßt der Aufklärer Lessing die vom Prinzen verlassene Orsina sagen, „nichts unter der Sonne ist Zufall.“

Domino-Steine

„Dominoes“ von Syd Barretts zweiter Soloplatte ist „eine der betörendsten Kompositionen Syds überhaupt“, so der Kritiker Brian Hogg. Tatsächlich ist es eines der letzten Lieder, die Syd Barrett aufgenommen hat. Höhepunkt und Ende zugleich.

Der Musiker Jerry Shirley über die Aufnahmen am 14.Juli 1970: „Dave Gilmour versuchte, mit Syd eine vernünftige Lead-Gitarren- Aufnahme zu machen, aber Syd konnte überhaupt nichts spielen, was irgendeinen Sinn machte. In einer Art Geistesblitz ließ Dave das Band zurücklaufen, und man hörte Syds Gitarrenspiel rückwärts. Es klang unglaublich. Die beste Lead-Gitarre, die er je gespielt hat. Gleich beim ersten Mal. Kein einziger Ton falsch.“

Vor kurzem wurde ein Outtake jener Aufnahmesession veröffentlicht. Es beginnt mit der Aufforderung: „Okay do it!“ „Should we try and sing it? Ah, it's alright, it's alright, right“, murmelt Syd Barrett mehr denn er spricht. Er greift Akkorde auf der Gitarre. Die Finger der rechten Hand streichen über die Saiten. Dann die Frage: „What is it called?“

„Don't know. No title. I suppose, it's called Dominoes.“ Und mit einer Stimme, die scheint gar nicht mehr von dieser Welt zu sein, ganz zerbrechlich, beginnt Syd Barrett zu singen: „It's an idea, some... [zögert] ah idea someday / In my tears I dream / Don't you want to see her prove... right.“ [bricht ab]

Daß die LP „Barrett“ im November 1970 überhaupt veröffentlicht werden konnte, war ein Verdienst von Dave Gilmour, der „seinen Freund heroisch bis zum Ende des Projektes unterstützte“ (Nicholas Schaffner). „Syd kam nicht zu den vereinbarten Aufnahmesessions, er spielte die falschen Songs, er vergaß die Texte, es war ein Alptraum“, sagt Storm Thorgerson, der Grafiker, der fast alle Pink-Floyd-Cover gestaltet hat.

Viereinhalb Jahre später, im November 1974, gibt es einen weiteren Versuch, mit Syd Barrett im Studio zu arbeiten. Er endet im Desaster. Die Hoffnung der Beteiligten, eine dritte Solo-LP aufzunehmen, erhält einen ersten Dämpfer, nachdem Syd Barrett mit einer Gitarre ohne Saiten erscheint. Als ein Helfer ihm die Blätter mit den Songtexten, die mit einem roten Farbband getippt worden waren, reichen will, denkt Syd Barrett, es handele sich um Rechnungen, und er versucht dem Mann in die Hand zu beißen. Zwischendurch läuft er immer mal wieder vor die Tür, frische Luft schnappen. Schnell hat der Aufnahmeingenieur erkannt: „Wenn Syd draußen nach rechts geht, ist er bald wieder da, geht er zur linken Seite, ist der Tag gelaufen.“ Bald wird das Unternehmen abgebrochen.

Sieh Syd spielen

Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen. Die erste Single der Pink Floyd kommt im April 1967 in die Charts. Doch schon nach einer Woche setzen die Rundfunkanstalten das Lied über den Fetischisten „Arnold Layne“, der im Mondenschein Frauenkleider von Wäscheleinen stiebitzt („They suit him fine“), auf den Index. Hervorragend für die Publicity der Band und nicht schlecht für das Image des Songwriters Syd Barrett. „See Emily Play“ wird wenige Wochen später ein Top-ten- Hit.

Im Spätsommer des Jahres wird die LP „The Piper at the Gates of Dawn“ veröffentlicht, die „alle Pop- und Rockplatten dieser Zeit veraltet erscheinen“ ließ (die Rockjournalistin Ingeborg Schober). Acht der elf Lieder stammen von Syd Barrett. Gnome und Fabelwesen bevölkern Traumlandschaften („Lazing in the foggy dew / Sitting on a unicorn“), die Melodien sind betont einfach gehalten, oft erinnern sie an Kinderlieder, dazu die eingestreuten surrealistischen Klangcollagen, Triangeltöne und Morsezeichen, Kuckucksrufe und Slidegitarre, Entenquaken und Orgelecho, eine bizarre Mischung aus „englischer Nachmittagsteegemütlichkeit, melodischem Erfindungsreichtum und Freak-Rock-Tumult“ (Rolling Stone).

Die Sehnsucht nach beschützten Kindertagen scheint durch. Der Plattentitel: die Überschrift des siebten Kapitels von Syd Barretts vormaliger Lieblingslektüre, Kenneth Grahames Kinderbuchklassiker „Der Wind in den Weiden“ (in Harry Rowohlts Übersetzung heißt sie „Der Pfeifer vor dem Tor zur Dämmerung oder: Warum sich alles stets zum Guten wendet“); das Lied „Matilda Mother“: Ein Kind bittet die Mutter, es nicht allein zu lassen, sondern weiter vorzulesen: Erzählen soll sie von dem „König, der so gütig das Land regierte, und dem scharlachroten Adler mit den silbernen Augen“.

Seit seinem elften Lebensjahr führt Syd Barrett akribisch Tagebuch. Eintragungen jeden Tag. Er ist 14 Jahre alt, als der Vater stirbt. Später sieht seine Schwester, daß in dem Tagebuch die Seite des Todestages leer ist. Und eine Freundin erinnert sich, daß er ihr sagte: „Poor dad died today.“

Der Schutz der Kindheit ist verloren. Ersatz für unerfüllbare Wünsche steht freilich zur Verfügung: „Travelling by telephone / Hey, ho here we go / Ever so high“, singt Syd Barrett.

Erstaunlicher Pudding

Während Andy Warhol Syd Barrett für den Musiker hielt, „der am besten begriffen hat, mein Mixed- Media-Konzept nicht nur zu kopieren, sondern in neue Dimensionen zu führen“, hatte der kühne Pläne: „Die Gruppen müssen sich künftig schon ein bißchen mehr einfallen lassen als müde Popshows: spektakuläre Theatershows“ – „Kampf den Plattenfirmen. Selber aufnehmen, pressen, vertreiben.“ Barrett ist damals noch der Prophet des Psychedelic- Rock – und doch bereits auf dem Weg in die Einsiedelei des von der Welt verehrten Weltverweigerers.

Zur zweiten Pink-Floyd-LP „A Saucerful of Secrets“ trägt er lediglich den „Jugband Blues“ bei, der für den Rockmanager Peter Jenner beweist, daß „Syd wußte, was mit ihm los war“. Der Song sei „die Eigendiagnose eines Schizophrenen“ („It's awfully considerate of you to think of me here / And I'm most obliged to you for making it clear /... that I'm not here, / And I'm wondering who could be writing this song“). 1970 erscheint seine erste Solo-LP „The Madcap Laughs“, noch im gleichen Jahr die zweite, „Barrett“.

Dann verschwindet er von der Bildfläche. Sein Rückzug aus dem Musikgeschäft galt lange Zeit als das große Rätsel der Rockgeschichte, und er selber wurde als „Mysterious Syd“ Objekt von kultischer Verehrung wie von kuriosen Gerüchten. Seit mehr als 20 Jahren, bis heute.

1972 konstituierte sich eine Syd Barrett Appreciation Society – ausdrücklich mit dem Ziel, ihm zu einem Comeback zu verhelfen. Die Gesellschaft gab das Fanzine Terrapin heraus (benannt nach einem Lied von Syd Barretts erster Solo-LP).

Ein Jahrzehnt später wird, in gewisser Hinsicht in Nachfolge dazu, wenn auch mit ganz anderem, eher kritischem Anspruch das Pink- Floyd-Magazin The Amazing Pudding (das war der ursprüngliche Titel des Stückes „Atom Heart Mother“) gegründet. Das Blatt wurde Ende vergangenen Jahres mit der Nummer 60 eingestellt. Die letzten Herausgeber, Andy Mabbet, 30, Bruno MacDonald, 22, Dave Walker, 32, und dessen Frau Carol, 31, sind nicht mehr allzu gut auf die Band zu sprechen, nachdem deren Mitglieder sich nicht entblödet hatten, ihre internen Streitereien auf das Fanzine zu übertragen, jeweils dessen Parteinahme zugunsten des Gegners unterstellend. The Amazing Pudding erschien zu seinen besten Zeiten mit einer Auflage von 4.500 Exemplaren und wurde „auf allen Kontinenten mit Ausnahme der Antarktis“ (Bruno MacDonald) gelesen. Ende der siebziger Jahre stellte die Syd Barrett Appreciation Society ihre Tätigkeit mangels Erfolges ein.

Syd Barretts Einfluß auf andere Musiker hat über die Jahre nicht nachgelassen. 1980 gelangte die britische Band Television Personalities mit dem Lied „I Know Where Syd Barrett Lives“ in die holländische Hitparade; als sie später als Vorgruppe von Dave Gilmour auftrat und ihr Wissen preisgab, wurde sie kurzerhand von der weiteren Tournee ausgeschlossen. 1987 erscheint als erste einer Reihe von „Tribute to...“-Platten die Syd Barrett gewidmete LP „Beyond the Wildwood“. Ungezählt sind die Coverversionen seiner Lieder. 1988 wird die LP „Opel“ veröffentlicht. „Das ist die geheimnisumwitterte dritte Platte“, wispern die Fans (sie meinen die 1974er-Aufnahmen, die sich als unbrauchbar erwiesen haben), doch dann beinhaltet die Platte lediglich uralte Outtakes.

Barretts Haus in Cambridge ist Ziel von Pilgerreisenden aus fernen Ländern. „Merkwürdigerweise kommen die meisten aus Skandinavien. Ich weiß auch nicht, wie die seine Adresse herauskriegen“, sagt ein Verwandter. Ein Farmer namens Sid Barrett, der 40 Meilen nordöstlich von Cambridge wohnt, ist ebenfalls betroffen. Die Verachtung aller echten Floydianer und Barrettianer aber traf die beiden Journalisten der französischen Zeitschrift Actuel, die 1982 Syd Barrett auflauerten und eine Art Überfallinterview machten („Was tun Sie in Ihrer Londoner Wohnung? Spielen Sie Gitarre?“ – „Nein, ich guck Fernsehen, das ist alles.“).

Immer wieder Gerüchte: Mal ist er tot im Eingang eines Schallplattengeschäftes gefunden worden, dann steht sein Comeback unmittelbar bevor. 1987 sollte er bei Konzerten mit den Mock Turtles aufgetreten sein; im vergangenen Jahr wurde gemeldet, er sei Schlagzeuger von Suede geworden. Und im Musik-Express konnte man gerade lesen: „Syd Barrett [...] jammt hin und wieder im örtlichen Pub.“

„Solche Gerüchte gehen seit 1970 alle paar Jahre herum“, sagt Andy Mabbett, „wahrscheinlicher als das Comeback von Syd Barrett ist das von John Lennon.“ Bruno MacDonald meint: „Es gibt so viele Zeitungsgeschichten über ihn, und die meisten haben sich als falsch herausgestellt. Er lebt in Cambridge ganz für sich, mag gern malen, er hat keinen Kontakt zu Pink Floyd oder der Musikindustrie.“

Aber die Musikindustrie schläft nicht. Die Journalisten Pete Anderson, 32, und Mike Watkinson, 33, berichten in dem Buch „Crazy Diamond“, daß Tim Sommer von der Schallplattenfirma Atlantic Records vor zwei Jahren 200.000 Pfund geboten habe für neue Songs von Syd Barrett, „egal welcher Art Fragment, Coverversion, a capella, Non-Pop, instrumental oder, letztlich, gesprochene Worte“. Aufgenommen werden sollten die Lieder bei den Barretts zu Hause, als Produzenten standen Musiker von REM bereit.

Die Familie lehnte das „Angebot“ ab. Syd Barrett wurde nichts erzählt.

Abschweifung 2

Etwas von der Suche nach Aufnahmen, die vielleicht nie existierten, hat jeder Pink-Floyd-Fan der frühen Jahre mitgekriegt. Es war einmal ein Abend, lang ist es her, an dem sendete das Dritte Radioprogramm eine Hitparade ganz besonderer Art. Der berühmte österreichische Schriftsteller Peter Handke stellt persönlich seine Lieblingslieder vor. Klasse! Aber nichts da, der hat das natürlich nicht so einfach gemacht, nicht nur irgendwelche Songs runtergedudelt, sondern Peter Handke hat eine „Satzhitparade“ vorgestellt, das heißt, er hat einen Prominenten zitiert, dem Zitat einen Rang zugeordnet und dazu eine Platte auflegen lassen. Ich erinnere noch den Satz: „Nachsetzen und draufhauen!“ Oder war das doch dieser Ausspruch mit der Leberwursttaktik? „Also nehmen wir die Demonstranten wie eine Leberwurst, dann müssen wir in die Mitte hineinstechen, damit sie an den Enden auseinanderplatzt.“ Ich glaube, der war von einem Polizeipräsidenten.

Auch eines der Lieder aus der Peter-Handke-Sendung erinnere ich noch ganz genau; ehrlich gesagt, ich m e i n e , es genau zu erinnern. Es ist seitdem nicht mehr aus meinem Kopf gegangen. Es heißt „Scarecrow“, und in ihm geht es um eine schwarzgrüne Vogelscheuche, auf deren Hut es sich ein Vogel bequem gemacht hat. Autor: Syd Barrett.

Und nun kommt es. So ganz sicher bin ich mir nicht mehr. Es kann auch ein anderes Stück gewesen sein. Dann allerdings stellt sich die Frage, warum ich seit jenem Tag die fixe Idee habe, daß das einzige Wesen in der Welt, das trauriger ist als ich, eine schwarzgrüne Vogelscheuche ist.

Rekonstruierbar ist es nicht mehr. Die Sendung habe ich damals mit einem Philips-Tonbandgerät aufgenommen, Halbspur Mono, 9,5 Zentimeter in der Sekunde. Das Band konnte man nur auf dem Gerät abspielen wegen der ungenauen Einstellung des Tonkopfes, und die Geschwindigkeit stimmte auch nicht mehr so ganz. Inzwischen hat das Gerät längst seinen Geist aufgegeben, und das Band hat meine Schwester bei ihrem letzten Umzug weggeworfen.

Der langen Rede kurzer Sinn: Wenn irgendjemand da draußen eine Aufnahme von dieser Sendung hat – also es würde mich schon sehr interessieren...

Presented by Volkswagen

Das Ende von „The Amazing Pudding“ ist viel trauriger als die gerade veröffentlichte Platte „The Division Bell“, Ausstoß einer Gruppe, die ihre künstlerische Satisfaktionsfähigkeit spätestens verloren hat, als sie unter einem Schild „Pink Floyd presented by Volkswagen“ bekanntgab, auf Tournee zu gehen. Bestimmt werde ich mir eines der Konzerte ansehen. Vor allem wird mich interessieren, ob Ignacio López die Bühnenansage machen wird.

Unter uns gesagt: So ganz übel ist die neue Platte gar nicht mal. Warum Nick Mason allerdings neulich in einer Fernsehsendung gesagt hat, daß man mit ihr neue Wege beschritten hat, ist mir nicht ganz klar. Eher glaube ich, daß Pink Floyd eine ziemlich Pink- Floyd-mäßige Platte gemacht hat. Aufgedonnert und bombastisch. Fast alles eignet sich wunderbar als musikalische Untermalung für einen Werbespot.

Doch als Dave Gilmour singt: „You were always the golden boy then / And that you'd never lose that light in your eyes / Hey you... did you ever realise what you'd become“, da habe ich gedacht, jetzt meint er seinen alten Freund Syd Barrett. „The rain fell slow, down on all the roofs of uncertainty“, heißt es in dem Lied „Poles Apart“, und das gefällt mir wirklich.

Aber einige Minuten später, in „Coming Back to Life“: „Lost in thought and lost in time“, höre ich, ich werde schon melancholisch: „Outside the rain fell dark and slow“, und so erscheinen mir die letzten Worte der ganzen LP nur folgerichtig: „Forever and ever“. Syd Barrett hat schon vor über zwanzig Jahren vorausgesehen: „Far, far away rain falls in grey“.

Interstellar Overdrive

Irgendwann Ende der sechziger Jahre hat Syd Barrett, so stellt es sich heute dar, die Verbindung zur Wirklichkeit verloren. Gibt es einen Namen für das, was geschah? Ein Stück auf „The Piper at the Gates of Dawn“ hat den Titel „Interstellar Overdrive“. Vielleicht war es so etwas.

Oder „Drogen“? „Er war jahrelang auf Trip, und Leute, die bereits in anderen Sphären leben, treibt Acid in vielen Fällen zu weit hinaus“, hat einer seiner damaligen Bekannten gesagt. „Damals war jeder mit den Nerven fertig“, verallgemeinerte eine Freundin. Einmal habe Syd Barrett sich nicht getraut, einen Freund aus einer psychiatrischen Klinik abzuholen. Wegen der Angst, daß man ihn selber nicht wieder gehen lasse.

Aber gab es überhaupt eine Wirklichkeit, zu der einer nicht zurückfinden konnte? Realitätsverweigerung war damals ja durchaus nicht ein Privileg avantgardistischer Kreise. Im Oktober 1967 beantragten amerikanische Kriegsgegner die Genehmigung, mit 1.200 Menschen das Pentagon zu umstellen, es zu beschwören, bis es in einer Höhe von hundert Metern über der Erde schwebe. So würden die von ihm ausgehenden bösen Einflüsse beseitigt und gleichzeitig der Vietnamkrieg beendet werden. Ein Verwaltungsbeamter erteilte schließlich eine Genehmigung für den Versuch, das Pentagon drei Meter hochzuheben, keinen Zentimeter höher.

Irgendwo da draußen befindet sich immer noch Syd Barrett. Der Rand des Universums aber, dafür lege ich meine Hand ins Feuer, ist in Wahrheit eine Doppelhaushälfte in einer Sackgasse am Stadtrand von Cambridge.

Literatur- und Plattenhinweise:

Nicholas Schaffner: „Pink Floyd – Saucerful of Secrets“, Hannibal Verlag.

Mike Watkinson und Peter Anderson: „Crazy Diamond – Syd Barret and The Dawn of Pink Floyd“. Omnibus Press, London.

Syd Barret: „Crazy Diamond“, 3 CD

Pink Floyd: „The Division Bell“ (EMI)

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