: Kein Russe ißt Kroatenherzen
■ Nur die Extremisten Rußlands interessieren sich für den Balkankrieg / Doch 77 Prozent lehnen den Nato-Angriff ab
Moskau (taz) – Entgeistert schaut die Verkäuferin den Kunden an. Wie bitte? Der Anklage der Volksverhetzung soll sie sich stellen? Doch kein Zweifel: Im Souterrain einer Imbißstube auf St. Petersburgs Hauptschlagader, dem Newski-Prospekt, vertreibt sie „Kroatenherzen“. Dunkelbraun und kroß gebacken.
Die Kunden mutmaßen, sie könnte eine Anhängerin des Chauvinisten Schirinowski sein. Sie streitet ab. Die Kroatenherzen bleiben an diesem Nachmittag liegen. Keiner will sich mit der Schuld beladen, ein slawisches Brudervolk verzehrt zu haben. Daß die Kroaten nach Rom und nicht nach Moskau schauen, reicht nicht hin, um sich blutig zu machen.
So sehen es wohl die meisten Russen. Nur wenige nehmen am Krieg im ehemaligen Jugoslawien Anteil. Es sind die Ränder des politischen Spektrums, die ihre Leidenschaften auf dem Balkan ausleben. Für viele bleibt Jugoslawien eine Urlaubserinnerung: „Wie kann man ein so schönes Land nur zerstören? Früher wollten wir immer dahin. Und wie schwierig war das.“
Trotz allem verbinden die Russen mit Jugoslawien eher die Serben, die während der Sowjetzeit in Rußland wirtschaftlich sehr aktiv waren. Man fühlt sich ihnen tatsächlich verbunden. Ohnehin erfuhren die Russen erst mit Beginn des Krieges, daß es keinen einzigen Jugoslawen gab. Für Völker wie die Russen, die den Imperialismus mit der Muttermilch aufsogen, bedeutet es einen ungeheuren Kraftakt, das Selbstverständnis kleinerer Völker anzuerkennen. Es ist gar nicht mal böser Wille. Was die Serben in Jugoslawien, waren die Russen in der Sowjetunion. Wenn 77 Prozent der Bevölkerung in einer Umfrage das Vorgehen der Nato ungerechtfertigt finden, dann hat es etwas mit der historischen Nähe der beiden Völker zu tun. Obwohl nur die wenigsten Russen mehr als einen Satz über diese „Nähe“ zu sagen wüßten.
Daß die Staatsduma mit 262 gegen zwei Stimmen eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates fordert, überrascht weniger. Das neue Parlament versteht sich als der wahre Hüter der Supermachtinteressen. Wenn 66 Prozent der Befragten erwarten, die Beziehungen zwischen den USA und Moskau würden sich verschlechtern, weist das dagegen vor allem auf eins hin: Die Öffentlichkeit wird schlecht informiert. Die Medien fokussieren den Krieg nämlich erst, seitdem Rußland über Sarajewo sein Image aufpolieren konnte und Nationalisten sich des Konfliktes bemächtigten, um innenpolitische Brüche zu forcieren. Vorher war er eine Marginalie. Kaum einer weiß, daß die Nato-Aktion auf einer Resolution basierte, die Moskau mitunterzeichnete.
Die Befragten glauben an die Möglichkeit, eine friedliche Lösung des Konfliktes zu finden. Insofern halten sie den Nato-Einsatz für überflüssig. Und auch die russische Diplomatie spricht seit Wochen von einer Verhandlungslösung. Man müsse sie nur machen lassen. Daß andere – bosnische – Interessen verletzt werden könnten, sieht man aus den genannten Gründen nicht. Und schließlich: Man stelle sich vor, Jelzin wäre vorab über den Nato-Einsatz informiert worden? Er hätte verdammt in der Bredouille gesessen. Jetzt ist er gut raus. Klaus-Helge Donath
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