■ Wir lassen lesen: Vergessenes Olympia
Im Sommer 1992 wurden in Barcelona die XXV. Olympischen Sommerspiele veranstaltet. Die XXV.? Notorische Erbsenzähler staunten nicht schlecht, kamen sie doch jedesmal nur auf 24 Olympiaden, wobei die wegen der beiden Weltkriege ausgefallenen Spiele von 1916, 1940 und 1944 durchaus mitgezählt werden.
Des Rätsels Lösung sind die „vergessenen Spiele“, die vom 22. April bis 2. Mai 1906 in Athen stattfanden, in der olympischen Geschichte jedoch meist unterschlagen werden. Nach den ersten Spielen der Neuzeit, 1896 in Athen, war es der Wunsch der Griechen, diese Veranstaltung alle vier Jahre in ihrem Land stattfinden zu lassen, doch Baron Pierre de Coubertin, Initiator der Olympia- Renaissance und damaliger IOC-Präsident, hatte universellere Pläne. Man einigte sich zunächst auf einen Kompromiß: Olympia sollte alle zwei Jahre stattfinden, Coubertins Wunsch entsprechend im Vier-Jahres- Rhythmus in wechselnden Städten, dazwischen aber jeweils in Athen. 1906 war es wieder soweit, nachdem die Stadt 1898 und 1902 wegen kriegerischer Verwicklungen verzichten mußte. Politische Ereignisse verhinderten auch die für 1910 und 1914 geplanten Wettkämpfe in Griechenland, der Kompromiß geriet in Vergessenheit, nie wieder gab es Olympia in Athen. Pierre de Coubertin hatte sich durchgesetzt und sorgte dafür, daß die mißliebigen Spiele von 1906 aus den Annalen verschwanden.
Die Geschichte der vergessenen Spiele ist nachzulesen in einem Buch, dessen Kern drei zeitgenössische Schilderungen bilden. Die munterste und interessanteste liefert der damals 24jährige Carl Diem, später als Organisator der Olympischen Spiele 1936 in Berlin zu zweifelhaftem Ruhm und einer Gedenktafel gekommen, die 1992 von Olympiagegnern entwendet und eingeschmolzen wurde. Diem berichtet ausführlich von der Anreise, von den Wettkämpfen im Olympiastadion, das 50.000 Menschen Platz bot, von der Bucht in Phaleron, wo erst stundenlang Privatboote vertrieben werden mußten, bevor die Schwimmer und Ruderer ans Werk gehen konnten, vom Auftritt der offenbar höchst liebreizenden dänischen Turnerinnen, die alle Beobachter gleichermaßen in ihren Bann zogen, und vom Fußballturnier, an dem Athen, Smyrna, Saloniki und Dänemark teilnahmen. Die Dänen gingen in der ersten Halbzeit des Finales gegen Athen mit 9:0 in Führung, woraufhin die Griechen weise auf die zweite Halbzeit verzichteten.
Und auch einen Skandal gab es zu verzeichnen. Als Griechenlands Nationalheld, der Gewichtheber Tofalos, gegen den Österreicher Steinbach antrat, schuf das Publikum eine Art Davis-Cup-Atmosphäre, die den berühmten Austria- Herkules so verwirrte, daß er prompt verlor. „Abscheulichen Sport-Chauvinismus“ sah Carl Diem am Werk, aber die Griechen schämten sich selbst so sehr, daß sie Steinbach am nächsten Tag jedesmal lauthals bejubelten, sobald er sich nur der Hantel näherte, was den braven Mann erneut so verwirrte, daß er fast wieder verlor.
Die deutschen Sportler konnten zum Leidwesen der Chronisten nicht viel gewinnen und waren besonders in der Leichtathletik unterlegen, wo die Amerikaner dominierten. „Man kann nicht behaupten“, beobachtete Carl Diem, „daß die Amerikaner ihr Licht unter den Scheffel stellen, wie es der Deutsche tut, wenn er nämlich eins hat. Er hatte aber keins und das Licht der Amerikaner brannte lichterloh.“ Zu einem ähnlich ernüchternden Fazit kam auch der „Deutsche Reichsausschuß für Olympische Spiele“ in seinem Abschlußbericht: „Was besonders die leichte Athletik anbetrifft, so hat man ... die Beobachtung machen können, daß Deutschland noch Jahrzehnte brauchen wird, um hier mit den andern Nationen erfolgreich konkurrieren zu können.“ Zurückgeführt wird dies unter anderem darauf, „daß die Jugend in Deutschland im Allgemeinen nicht mäßig lebt.“ Ein Umstand, der mit den Beobachtungen Diems übereinstimmt. Zu Beginn der Wettkämpfe trifft er den Leiter der amerikanischen Mannschaft abends am Eingang des Sportlerquartieres: „Sein Amt war es, die Schwärmer, die das mehr oder weniger interessante Nachtleben der griechischen Hauptstadt studieren zu müssen glaubten, zu lautlosem Eintreten zu ermahnen. Auf diese Weise wurde er – leider – mit den deutschen Teilnehmern bekannt.“ Matti Lieske
Karl Lennartz/Walter Teutenberg: „Die Olympischen Spiele 1906 in Athen“, Kasseler Sportverlag 1992, 262 Seiten, 54 DM, ISBN 3-928562-10-X
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