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„Auf dem Weg zum Wachsaal“

■ Stiftung Alsterdorf: Belegschaftsproteste gegen Mißmanagement und Sparkonzept / Der pädagogische Anspruch droht, auf der Strecke zu bleiben Von Kai von Appen

Unter den 2400 Beschäftigten der Stiftung Alsterdorf brodelt es, Konkursgerüchte machen die Runde. Entgegen den Beteuerungen des Beiratsvorsitzenden Hans-Rudolf Schüler vom Montag (taz berichtete) hat der Stiftungsbeirat der kirchlichen Behinderteneinrichtung dem Vorstand grünes Licht gegeben, sein Sparpaket weiter zu schnüren. Betreuerin Kerstin Baum*: „Wenn das Konzept realisiert wird, sind wir auf dem Weg zurück zur Verwahrung der Behinderten – zurück auf dem Weg zum Wachsaal“.

Die Stiftung Alsterdorf konnte sich in der Vergangenheit nur schwer vom geschichtlichen Image freimachen. Früher diente die Einrichtung der Verwahrung von Behinderten, die aus Straßenbild und Öffentlichkeit verschwinden sollten. 1979 leitete der „Kollegenkreis“, eine von Mitarbeitern getragene Gruppe, die Wende ein. „Weg von den Wachsälen und der Verwahrung war damals die Devise“, so Betreuer Peter Müller*. Behindertenbetreuung und -förderung wurden durchgesetzt, pädagogische Konzepte zur gesellschaftlichen Integrierung von Behinderten sowie Erwachsenenbildung hatten nunmehr Priorität.

Mißmanagement stellt nun alles in Frage, seit Jahren werden rote Zahlen geschrieben. 1992 konnten die Verluste durch Entlassungen und Privatisierungen zwar kurzfristig eingedämmt werden, der Schuldenberg von 38 Millionen Mark blieb aber unangetastet. In diesem Jahr belaufen sich die monatlichen Defizite auf 1,6 Millionen Mark, so Peter Müller. Auf Unverständnis stößt unter den Mitarbeitern umso mehr, daß das Stiftungsmanagement sich in den Pflegesatzverhandlungen mit der Sozialbehörde über den Tisch ziehen ließ.

Ohne ersichtlichen Grund, so zumindest die Mitarbeiter, hatte der Vorstand der Kürzung der Pflegesätze zugestimmt, wodurch der Einrichtung abermals 10 Millionen Mark verlorengehen. Dieser Verzicht hatte selbst in der Sozialbehörde Verwunderung ausgelöst. Gegenüber den Mitarbeitern verkaufte Finanzvorständler Peter Buschmann das Ganze als Herausforderung: „Eine Chance zur Umstrukturierung“.

Und diese Umstrukturierung betreibt der Vorstand jetzt. Müller: „Es ist ein Modell der Zerstörung“. So verfügt die Stiftung derzeit über 120 Wohngruppen, davon rund 60 Gruppen auf dem Alsterdorfer Gelände, der Rest sind dezentrale Wohngemeinschaften in den verschiedenen Stadtteilen Hamburgs. Eine Gruppe, die in der Regel aus 10 Behinderten besteht, wird in Schichten von je drei bis vier MitarbeiterInnen beaufsichtigt, von denen eineR formal die Funktion der Gruppenleitung übernimmt. „Der Gruppenleiter ist integrierend tätig. Er ist eine Identifikationsfigur für den Behinderten“, so Mitarbeiterin Martina Meier*: „Er ist verantwortlich für jeden Bewohner und kennt diesen auch sehr gut.“

Nach dem Sparkonzept sollen die Gruppenleiter keiner Lebensgemeinschaft mehr zugeordnet werden, vielmehr sollen sie künftig drei Wohngruppen betreuen. Meier: „Wenn diese Stelle gestrichen wird, ist eine qualifizierte Betreuung nicht mehr möglich“. Konsequenz: Schwerstbehinderte können nicht mehr intensiv genug betreut werden. Martina Meier: „Die müssen aufgrund des Personalmangels ruhiggestellt werden“. Im Klartext: Psychopharmaka. Oder: „Sie werden in Aufbewahrungsstationen und -sälen untergebracht, ohne spezielle Betreuung und Förderung. Auch hier müssen die Behinderten dann wegen Arbeitsüberlastung ruhiggestellt werden“, so Martina Meier. Peter Müller fügt hinzu: „Das Konzept ,Jeder ist förderbar' wird aus ökonomischen Erwägungen über Bord geworfen“.

Auch die Einzelförderung in den Werkstätten soll nach den jetzigen Management-Plänen dem Rotstift zum Opfer fallen. Diejenigen, die nach Ansicht des Managements „förderunfähig sind“, sollen nach Belegschaftsinformationen künftig nicht mehr arbeiten. „Stattdessen ist gewinnträchtige Industrieproduktion zu Billiglöhnen angesagt“, so Peter Müller.

Auch die Erwachsenenbildung soll drastisch reduziert werden. Lesen, Schreiben und Rechnen sollen sich nach den Vorstandsplänen die Bewohner in Zukunft selbst beibringen. Müller: „Absurd“. Völlig gestrichen werden soll auch der Psychologische Dienst – sowohl für die Behinderten als auch für MitarbeiterInnen, die täglich den nervenaufreibenden Beruf mit kranken Menschen ausüben, eine wichtige Einrichtung. Kerstin Baum: „Für die Bewohner ist der Psychologische Dienst in Sachen Partnerschaft und Sexualität eine wichtige und unverzichtbare Einrichtung.“

Aber auch unter den Beschäftigten herrscht Verunsicherung: Gerüchte über Streichungen von Urlaubs- und Weihnachtsgeld sowie von Rückgruppierungen machen die Runde. Und der auf Hochglanzbroschüren verbreitete Plan, die Stiftung in eine Holding umzuwandeln, stößt ebenfalls auf Skepsis. Müller: „Hier soll über die Holding das Tarifsystem ausgehebelt und der Weg freigemacht werden, um Billigverträge zu diktieren“.

Nach Auffassung der MitarbeiterInnen ist allein der Vorstand, der von Behindertenarbeit nichts vestehe, für die derzeitige Misere verantwortlich. Vorstandschef ist Pastor Rolf Baumbach, Finanzverantwortlicher Peter Buschmann, der an der Seite von Albert Vietor die Neue Heimat-Pleite erlebte, der dritte im Bunde ist Wolfgang Kraft, Ex-Manager einer Betonfirma. Müller: „Es wird nicht über menschliche Standards, über päd-agogische Konzepte und Gruppengrößen gesprochen, sondern nur über Ökonomie“. Dabei gebe es im mittleren Management und in der „aufgeblasenen Verwaltung“ durchaus Einsparungsmöglichkeiten. Auch die Vorstandsgehälter von bis zu 230.000 Mark seien untragbar. Vorrangig sei aber, daß der Stiftungsvorstand unverzüglich in Nachverhandlungen mit der Sozialbehörde eintritt, um die Pflegesatzkürzungen rückgängig zu machen.

Die MitarbeiterInnen sind durchaus bereit, ihren Beitrag zur Konsolidierung der Stiftung Alsterdorf beizutragen. Freiwillige Arbeitszeitverkürzungen (VW-Modell) sowie der Verzicht auf Freischichten und Lohnerhöhungen sind keine Tabus, sofern die fortschrittliche Behindertenbetreuung unangetastet bleibt und auf die anvisierten 200 betriebsbedingten Kündigungen verzichtet wird.

Die Leitung der Stiftung Alsterdorf wollte gestern zu dem Vorstandskonzept keine Stellungnahme abgeben. „Es wird derzeit an anderer Stelle (Runder Tisch d. Red.) über das Modell verhandelt, so daß ich ungern etwas dazu sagen und Ergebnissen vorgreifen möchte“, so Sprecherin Ursel Heise. Sie verweist darauf, daß in die Gespräche zwischen Vorstand, Gewerkschaft ÖTV und Mitarbeitervertretung „Bewegung gekommen“ sei. Heise: „Es ist ja nur ein Modell.“

Betreuerin Martina Meier warnt dennoch: „Wir werden nicht zulassen, daß durch Mißmanagement unsere Arbeitsplätze und unsere Arbeit mit den Behinderten zerstört wird“.

*Namen geändert

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