: Das Heer der Unsichtbaren
Die Wirtschaftskrise des letzten Jahres hat auch den Dillkreis in Hessen erfaßt / Elf Prozent Arbeitslose zählt das örtliche Arbeitsamt / Sie stören niemanden ■ Von Niklaus Hablützel
Jede Geschichte hat einen Anfang, und wer in Dillenburg lebt, kann weit zurückblicken. In das frühe Mittelalter vielleicht und hinab in die Erzgruben, die aus jener Zeit noch heute zu besichtigen sind. Die letzte Hütte auf dem Weg von Nieder- nach Oberscheld schloß nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Frank'schen Eisenwerke hielten noch weitere vierzig Jahre durch. Erst in diesem Februar ging nach fast vier Jahrhunderten auch diese Geschichte zu Ende – mit einem Konkurs und einer veritablen Arbeiterdemonstration vor dem Rathaus der Stadt.
Franks Erben haben Mißwirtschaft getrieben, heißt es jetzt überall. Das Land wollte da auch kein Geld mehr hinterherwerfen. Und schuld an der Pleite waren noch nicht einmal die Banken. Das haben schließlich sogar die Arbeiter geglaubt, die am 11. Februar 1994 zornig, aber in geordneten Reihen hinter den Gewerkschaftsfahnen marschierten. Einer von ihnen, Klaus Krafczig aus dem „Reddighäuser Hammer“, einem Zweigwerk des Unternehmens, löste sich aus dem Zug, betrat die Schalterhalle der Deutschen Bank in Dillenburg und wollte den Chef sprechen. Nur eine einzige Frage hatte er zu stellen: „Wo bleibt unser Geld?“
Aber das konnte ihm Werner Tiggesbäumker, Leiter der Zweigstelle, nun auch nicht sagen. In seiner Bank war das Geld nicht. Da holten der Arbeiter und der Angestellte gemeinsam den letzten Direktor der Frank'schen Eisenwerke ans Telefon, einen gewissen Hans Michael Hornberg. Geld war noch das wenigste, was ihm fehlte. Schlecht liefen die Geschäfte seit Monaten, mäßig in der Abteilung Heizen und Kochen, sehr schlecht bei der Reinigungstechnik, noch schlechter im Maschinenbau, in der Walz- und Schmiedetechnik.
Ein zerbrechlicher Monolith wie die Giganten der Stahl- und Autobranche war das nun gerade nicht, was da aus dem Unternehmen der Grafen von Nassau entstanden war, die im Jahr 1607 unterhalb der Stadt an der Dill eine Eisenhütte gegründet hatten. Seit 1839 gehörte das Werk der Bürgerfamilie Frank. Doch die viel zu teure und ein bißchen altmodische Vielfalt der mittelständischen Raritäten mochte im letzten Jahr fast niemand mehr kaufen, auch nicht im wiedergewonnenen deutschen Osten. Die Arbeiter waren bereit, auf 20 Prozent ihres Lohnes zu verzichten. Doch das Familienkapital war aufgezehrt, das Geld der Anteilseigner verloren, keine Bank und kein Aufsichtsrat wollte mehr helfen. „Es tut mir leid“, hat der Geschäftsführer Hornberg gesagt.
Klaus Krafczig ging hinaus und sprach zu den Demonstrierenden. „Herr Hornberg weiß nicht, wie es weitergeht“, so ist sein Bericht in der Lokalzeitung überliefert, „jetzt habe ich selbst auch keine Hoffnung mehr.“
Wirklich nicht? Verzweiflung sieht anders aus. In Herborn weiter unten an der Dill ist das Rathaus aus dem 16. Jahrhundert mustergültig restauriert. Der Leiter des Sozialamtes hat große Mühe, ein ungelöstes Problem auch nur zu nennen. „Die Wohnungen“, bringt er schließlich stirnrunzelnd heraus. Obdachlose? „Nein, nein, das nicht. Aber manche wollen umziehen, und finden dann nichts...“
Die zwei in der Bahnhofsgaststätte wissen, daß es mit den „Juno“-Werken von Buderus nun auch zu Ende geht. Der schwedische Konzern „Elektrolux“ hat die berühmte Fabrik für Kochherde gekauft. „Die machen den Laden dicht.“ Kopfnicken über dem Bierglas nachmittags um drei. „Klar.“ Die Lage der Weltwirtschaft ist voll durchschaut, und das schon seit Jahren, mindestens aber seit sie da sitzen wie jeden Tag. Ob der Alkohol oder die Arbeitslosigkeit am Anfang dieser Geschichte stand, wer weiß das noch? Es ist schon so lange her. 36 Monate bei dem einen, der andere kann sich nur schlecht erinnern.
In Dillenburg stört das niemanden, es fällt gar nicht auf. Dillenburg ist alt, zwei Zeitungen berichten über das Leben, wie es hier wirklich ist; über den Gesangverein, die neue Sporthalle, das Rockkonzert im Jugendklub. Und auch über die wilde, aber glücklich beendete Verfolgungsjagd der Polizei in der vergangenen Nacht. Im Suff ein Auto gestohlen. Der „junge Mann“, wie der Reporter taktvoll schreibt, saß schon einmal in Haft, weil man ihn nächtens beim Nacktbaden im Städtischen Hallenbad erwischt hatte. „Mit Kumpeln“, heißt es, war er dort eingebrochen. Nun wird er länger einsitzen, in der Statistik der Arbeitsuchenden kann sein Name für eine Weile gestrichen werden.
Wilhelm von Oranien, der Befreier der Niederlande, hat hier seine Stammburg gebaut, die spätmittelalterlichen Gassen darunter sind eine Augenweide. Die Statistik nicht. Doch hier scheinen ihre Zahlen noch weniger zu bedeuten als sonst. Über elf Prozent sind in Dillenburg arbeitslos gemeldet, weit mehr als im Durchschnitt des Landes Hessen. Tatsächlich ist die Zahl größer, auch der Leiter des Arbeitsamtes ist bereit, einen gewissen Zuschlag als Dunkelziffer anzunehmen. Die Männer hat es im letzten Jahr besonders hart getroffen, die Facharbeiter des Metallgewerbes, das hier seit Menschengedenken angesiedelt ist.
3.151 Männer waren Ende März ohne feste Arbeitsstelle, ihre Zahl ist in einem Monat um 25 Prozent angewachsen. Die Frauen haben sich an die Krise schon länger gewöhnen müssen. Ihre Arbeitslosenzahl blieb fast konstant, daher wenig auffällig. Unmerklich verschwinden sie aus den Augen der Statistiker. Etwa 38 Prozent der Beschäftigten des Raumes Wetzlar, wozu der Unterbezirk Dillenburg gehört, sind weiblichen Geschlechts, unter den Arbeitslosen aber sind es 41 Prozent. Und dabei wird es bleiben. Die Büros und Läden, die Arbeitsplätze in den Dienstleitungsbranchen, in denen sie vor allem ihren Lohn verdienen könnten, fehlten schon lange. Warum sollte es morgen mehr davon geben?
Manche erinnern sich schon gar nicht mehr an eine Zeit der Arbeitssuche. Und daß es jetzt wieder schwierig geworden ist im schönen Dillenburg, das wollen sie oft nur vom Hörensagen wissen. „Mein Mann redet ab und zu davon“, sagt eine und ärgert sich über die Frage, was sie davon hält. Auch diese Geschichte einer Hausfrau hat irgendwann anders angefangen, mit einem Namen auf einer Lohnliste, vielleicht aber auch mit einer Akte im Arbeitsamt. Heute schließt sie mit dem Satz, daß sie, die Erzählerin, von Politik nun mal nichts versteht.
Samir lächelt. Samir ist Kurde und legt Pflastersteine. Mit seinem Chef rechnet er in bar ab, die Scheine stecken in der Hosentasche. Alles legal, die Sache ist mit der Behörde geregelt. Manchmal werden mehr Leute gebraucht. Samir kennt sie, auch das wird geregelt. Der Chef ist ein Linker, war Student im Jahr 1968. Wurde dann Sozialdemokrat und weiß jetzt, daß überall nur gelogen wird. So viele Ausländer brauchen wir nicht, sagt er, ein paar schon, aber nicht so viele. Schuld daran sind die Deutschen, die sich zur Arbeit auf der Baustelle zu fein sind. „Suchen Sie mal einen Arbeitslosen, der so was macht.“ Samir versteht sehr gut Deutsch, versteht auch, wenn der Boß über die Kurdenfrage redet. Einen Staat hatten die ja noch nie, sagt der Deutsche. Samir blickt auf den Tisch, er hat Nachrichten gehört, und viel gelesen hat er auch. Ein gebildeter Mann wie er schweigt voll Nachsicht zu solchen Reden. Mit Büchern und Zeitungen ist der andere schon lange fertig. Lohnt sich nicht. Man muß die Ärmel hochkrempeln, Geld ist genug da, auch für das Straßenpflaster im historischen Stil, das hier, im Zentrum des alten Herborn, ausgelegt worden ist. „Was glauben Sie, was das gekostet hat?“ Der Fachmann muß es wissen.
Niemand lungert herum auf den Gassen zwischen den Fachwerkhäusern, niemand gibt der Statistik recht. Elf Prozent, eher zwölf der hier Lebenden sollten sprichwörtlich auf der Straße stehen.
Der Arbeitsamtsleiter rechnet zusammen. Einige Umschulungskurse sind bereits eingerichtet, weitere fest geplant. Facharbeiter, die aus der Fabrik entlassen wurden, könnten Handwerksmeister werden. Mit Erfolg repariert in Wetzlar ein Arbeitsbeschaffungsprojekt alte Kühlschränke, demontiert fast jeden Schrott, um die Materialien getrennt der zeitgemäßen Wiederverwertung zuzuführen. Der Sinn der Sache leuchtet sofort ein, und etwa zwanzig Menschen verdienen damit ihren Lohn. Eher therapeutische Angebote richten sich an besonders schwierige Fälle. Das Amt ist fleißig, am Ende summiert sich die Zahl der durch irgendeine seiner Maßnahmen betreuten Menschen auf etwa 250.
Wo bleiben die anderen, die rechnerischen 5.168, die zur letzten verfügbaren Arbeitslosensumme von 5.418 fehlen? Und wo die weiteren, die dieses Amt schon nicht mehr betreten, weil sie nach der zwanzigsten Bewerbung die Arbeitssuche eingestellt haben?
Auch der Arbeitsamtsleiter weiß es nicht. Er hat schon darüber nachgedacht, es wundert ihn auch. Sehr häusliche Leute lebten hier, meint er, bodenständige, sie kommen irgendwo unter, in der Familie, in den Gemeinden. Er streckt den Arm aus, um zu zeigen, wo das sein könnte. In Unterscheld vielleicht, neben der Adolphshütte, dem historischen Ursprung der Frank'schen Werke.
Dort rührt sich nichts mehr, 640 Menschen haben ihren Arbeitsplatz verloren. Die Dorfstraße ist dennoch kaum zu überqueren im Feierabendverkehr. So eilig können es Arbeitslose nicht haben, nach Hause zu fahren in die Eigenheimkolonien, die um die kaum noch auffindbaren alten Dorfkerne herumgewuchert sind.
Das Gemeindehaus ist geschlossen, der Pastor abwesend, der Platz vor der Kirche leer. Und der Dicke winkt ab, der an diesem Nachmittag so viel Zeit zu haben scheint, daß er hier spazierengehen kann. Überstunden hat er geschoben bei Rittal. Solide Metallbranche von internationalem Ruf ist das, nicht so wie Frank. Natürlich weiß er, was gespielt wird. Nur kassiert haben die. Er nicht. Und um seinen Job, nee, also darüber macht er sich nun wirklich keine Sorgen.
Ein Heer der Unsichtbaren hat sich auf den Weg gemacht. Es kämpft nicht, es wartet. Aber worauf? Wohl kaum auf den Strukturwandel, von dem der Kämmerer der Stadt Herborn spricht. Das Wort hat keinen bestimmbaren Inhalt. Mal fehlen die Gewerbeflächen, mal die Dienstleistungen, dann wieder die Qualifikationen.
Aber die Gewerbeflächen, Dienstleistungen und Qualifikationen haben auch schon das letzte Mal gefehlt, als die Krise an die Dill kam und hinterließ, was in dieser Sprache „Arbeitslosensockel“ heißt. Seine Höhe ist berechenbar, doch die Zugänge und Abgänge der Unternehmen auf der einen, der Alters- und Berufsgruppen auf der anderen Seite lassen sich nur schwer aufeinander beziehen. Lauter Einzelfälle addieren sich zu weiter nichts als einer anderen Zahl.
Zehn Prozent Stellenlose werden wohl diesmal übrigbleiben, der Schnitt ist vollzogen, wer in die nächste Runde einsteigt, schiebt die ersten Sonderschichten ein. Bald werden neue Leute nachrücken, noch besser ausgebildete. Fräser, Dreher und Schlosser sind schon jetzt gesucht, wenn sie nur die Computersteuerung der allerneusten Maschinen beherrschen. „Olympiamannschaft mit Endlaufchance“ nennt das der Arbeitsamtsleiter.
Die anderen, die da nicht mithalten, verschwinden allmählich in einem Zwischenreich, das nur schemenhaft zu erkennen ist und dessen Grenzen flüssig sind. Auch aus der Statistik verschwinden die Verlorenen, aber dort vielleicht zuletzt. Lange vorher sind sie unsichtbar geworden, niemand scheint sie näher zu kennen oder auch nur länger darüber zu sprechen. Jedoch senden sie seltsame Signale aus. Dem Schuhhändler zum Beispiel fällt auf, daß gute Kinderschuhe kaum noch gekauft werden, und schon gar nicht wie früher alle paar Monate neu, passend zu den wachsenden Füßen der Kinder. Es tut ihm weh, sagt er, wenn er sie in diesen Plastikstiefeln herumlaufen sieht. Ein Filialgeschäft hat er schon geschlossen, im anderen arbeiten nur noch Frauen, stundenweise für 560 Mark im Monat. So werden Sozialabgaben gespart und Arbeitsplätze gerettet.
Gerade daran läßt sich der Reichtum dieser Gesellschaft messen. Sie besitzt schier unerschöpfliche Puffer und Rückzugszonen, Vorräte und Polster. Armut ist nur als Einzelfall bekannt, nicht als Elend von Massen. Auch die Demonstration vom Februar war ein Einzelfall, eine Geschichte unter vielen anderen, die mehr bedeuten, als die Fahnen und Parolen, die für ein paar Stunden entrollt worden sind.
Die wahren Dillenburger Geschichten sind anders, kleiner, auf symbolische Zeichen können sie verzichten. Ein Bauerssohn zum Beispiel hat endlich den väterlichen Hof ganz aufgegeben, der schon lange keine ganze Familie mehr ernähren konnte. Auch er kennt Arbeitslose, aber keinen, der länger in diesem Zustand blieb. Es gab immer etwas zu tun. Er selbst steht an der Werkbank bei Rittal, hat sich weitergebildet, die Firma für allerlei technische Spezialitäten, Schaltschränke und Sicherungssysteme auch. Firmenleitung und Arbeiteralltag beginnen in dieser Erzählung zu verschwimmen. Sonderwünsche der Kunden müssen heute erfüllt werden, so hat er zumindest verstanden, was eine Strategie für die Zukunft ist. Darauf, daß er dabei ist, kann sich seine Familie verlassen.
Zwei junge Frauen haben wieder keine Halbtagsstelle gefunden – „egal was und wo“. Kichernd verlassen sie das Arbeitsamt, als hätten sie wenigstens das zweitbeste Los gezogen. Der Industriekaufmann, der mit seinem Antrag vor einer Tür steht, läßt es zu einer immerhin denkbaren privaten Krise schon gar nicht kommen. Die Firma, die ihn angestellt hat, steuert auf die Pleite zu, das ist ihm klar. So lange will er aber nicht warten, er sucht eine neue Stelle. „Es sieht gut aus“, sagt er nach dem Termin mit seinem Sachbearbeiter. Und zum Kaffeetrinken hat er jetzt keine Zeit mehr.
So schlau war der Automechaniker nicht, der die Aushänge der Lokalzeitung studiert. Ihn hat es erwischt, seit Monaten ist er arbeitslos. Mit einer Lehrstelle fing die Geschichte an. War danach nichts frei in der Garage, aber den Computer im Büro verstand er besser als der Meister. Der Händler, der das Gerät geliefert hatte, ließ den überflüssigen Automechaniker die Programme an andere Automechaniker verkaufen, bald mit fester Stelle und steigender Provision, bis plötzlich auch Computer kein Geschäft mehr waren. Ende einer Angestelltenlaufbahn, Ende einer Geschichte, die mit viel Gelächter dazwischen erzählt werden muß. Gerade hat er den Pachtvertrag für eine eigene Tankstelle unterschrieben: Ende auch der Arbeitslosigkeit, falls davon die Rede war. Dillenburger Schicksale brauchen nicht viele Worte. Sie erzählen von Zwischenfällen und ihren kleinen Lösungen. Nichts ist krisenfester als das.
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