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Klingt nach Einsamkeit

■ „Attrappenstadt“ – urbanes Panorama des Theaters atitüd

Der Mensch allein in der großen Stadt – wie oft hat man das schon gesehen, gehört, gelesen? Oder anders gefragt: Tanztheater in Bergsteigerstiefeln, kann das gutgehen? Es kann.

Vor fünf Jahren brachte Martina Leekers Theater atitüd seine erste Inszenierung auf die Bühne, „Schräggeradeaus“ hieß das Stück. Im Juni 1991 folgte „Schieberblues“: Neun Schauspielerinnen und Schauspieler vollführten auf ebenso vielen Bürostühlen einen akrobatischen Reigen zum Beckett-Thema Warten auf etwas, das nicht kommen kann. Und nun also der Mensch unter vielen anderen Menschen in der großen „Attrappenstadt“. Das klingt nach Einsamkeit, Düsternis, den Kehrseiten des Lebens. Doch ist dabei keine pathetische, grüblerisch schwere Anklage herausgekommen, sondern ein leichtfüßiges Spiel, das auf Tiefgang nicht verzichtet.

Einige wenige Accessoires, eine einfache, dafür um so wirkungsvollere Choreographie genügen, um die Akteure in die unterschiedlichsten Rollen schlüpfen zu lassen. Fünf Wintermäntel, rund dreißig verschiedene Hutkreationen und unzählige Obstkisten, mehr brauchen sie nicht, die vier Frauen und der eine Mann auf der Bühne. Damit entfalten sie ein Sittengemälde der gesellschaftlichen Konventionen, Verhaltensweisen und der kleinen Fluchten. Ob zum Gassenhauer „New York, New York“ aus dem Heim-Syntheziser oder zur Musik von Philip Glass, während gut einer Stunde, in fünf einzelnen, lose miteinander verbundenen Szenen vergeht ein ganzer Tag. Irgendein Tag in irgendeiner Stadt.

Menschen hetzen auf den Straßen aneinander vorbei, beobachten sich, flirten, buhlen, balzen, wagen sich vor, lassen für Augenblicke die aufgesetzten Masken fallen und ziehen sich wieder zurück in ihre eigene, private Welt. Zu Hause, in ihren Obstkistenwohnungen, sitzen sie am Fenster, sie gehen flüchtige Beziehungen ein, spielen Machtspiele.

Mit viel Witz und sanfter Ironie führt Martina Leeker Charaktere vor, zeigt die Stärken und Schwächen ihrer Typen, die allesamt nur zu bekannt erscheinen. Ein bißchen wirkt dieses urbane Panorama wie das stumme Theater von Achim Freyer, der unlängst mit seinen neuen Produktionen „FlügelSchläge“ und „DisTanzen“ an der Akademie der Künste gastierte.

Doch wo Freyers Stücke elegisch und bedeutungsschwanger sind, ist Leekers aktuelle Inszenierung leicht und beschwingt, alltäglich und banal, frei und unprätentiös. Weniger kunstvoll vielleicht, aber nicht mit weniger Wahrheit in ihrem Blick. Leeker, die Mitte der achtziger Jahre in Paris selber eine Theaterausbildung bei Etienne Decroux und Jacques Lecoq, den Großmeistern der Pantomime, absolvierte, hat ein ausgezeichnetes Gespür für Dramaturgie und Geschwindigkeit. Da treffen die Pointen, reichen spärliche Bewegungen und minimale Veränderungen der Ausstattung aus, um eine Atmosphäre heraufzubeschwören, die so dicht ist, das man sie mit dem Messer schneiden könnte. Auch in der Attrappenstadt gibt es manchmal ganz wundervolle Abende. Ulrich Clewing

Noch heute, 20.30 Uhr, im Theater Schalotte, Behaimstraße 22, Charlottenburg sowie 9.-11.6., 20.30 Uhr, im Fliegenden Theater, Hasenheide 54, Kreuzberg

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