: Das kritische Lehrjahr
1994 fehlen mindestens 5.000 Lehrstellen in Berlin / Mit Prämien und Beratern gegen die Lehrstellenkrise ■ Von Anja Dilk
Die Zukunft einer Gesellschaft liegt in der Jugend, die sie heranbildet – so heißt es gemeinhein. Doch immer mehr junge und motivierte Leute suchen vergeblich eine Lehrstelle.
„Wir steuern auf eine Katastrophe zu“, sagt Dieter Pienky vom Deutschen Gewerkschaftsbund, Landesbezirk Berlin-Brandenburg. „Seit 1990 ist die Zahl der Ausbildungsverhältnisse in den neuen Ländern um zwei Drittel zurückgegangen. Rund 19.000 Ausbildungsplätze fehlen jetzt in der gesamten Region.“ Nach Auskunft des Landesarbeitsamtes Berlin standen Ende April in ganz Berlin 12.500 Stellen für 20.270 Bewerber zur Verfügung. Das heißt – unzulässig gemittelt –: acht bisher unvermittelte Bewerber rangeln sich um einen Ausbildungsplatz.
Etwa 2.000 Lehrstellen weniger als 1993 stellt die Wirtschaft für die wachsende Zahl von Schulabgängern und Azubi-Pendlern zur Verfügung. Vor allem im industriellen Bereich werden Lehrstellen abgebaut.
Besonders schlecht sieht die Situation in den Metall-, Elektro-, Bau- und Baunebenberufen sowie in den Verwaltungs-, Büro- und Organisationsberufen aus. „Hier ist der Bewerberüberberhang besonders hoch“, sagt Melanie Nassauer vom Landesarbeitsamt Berlin-Brandenburg. „In anderen Berufen gibt es einen Stellenüberhang beispielsweise bei Verkaufsberufen im Nahrungsmittelbereich.“ Die äußerst angespannte Situation auf dem Lehrstellenmarkt wird durch das berufsstrukturelle Ungleichgewicht zusätzlich verstärkt. Die Berufswahl der Jugendlichen richtet sich eben nicht nach den Marktbedürfnissen.
Obwohl im Land Brandenburg die Zahl der Lehrstellen immerhin um 2,5 Prozent gegenber 1993 gestiegen ist, sieht die Situation dort noch schlechter aus: Nur 10.000 Ausbildungsplätze gibt es für 20.500 BewerberInnen. Hinzu kommen erhebliche regionale Unterschiede. Bewerben sich in Potsdam 14 Jugendliche auf 10 Stellen, kommen in Randzonenbereichen wie Eberswalde sogar 31 Bewerber auf die gleiche Zahl der Plätze. Viele Brandenburger drängen dann auf den Berliner Lehrstellenmarkt. Die Senatsverwaltung für Schule rechnet mit einer wachsenden Zahl von Pendlern. Etwa 2.000 sind es zur Zeit. Dadurch spitzt sich die Situation vor allem auf dem Westberliner Lehrstellenmarkt noch weiter zu.
Die Ursachen für die Misere sind nicht nur in den Struktureinbrüchen zu suchen. Nach Einschätzung von Eckbert Steinke von der Industrie- und Handelskammer spielt die verhaltene Beurteilung der Zukunftsaussichten in der Region eine entscheidende Rolle. „Für viele Firmen stellt sich die Frage: Lohnt es sich überhaupt noch, in einen Lehrling zu investieren?“ Dies trifft vor allem für die großen Betriebe zu. Nach einer Studie des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB), liegen die Nettokosten für einen Lehrling bei großen Betrieben deutlich höher als bei mittleren und kleineren. Aber: „Trotz hoher Kosten“, kritisiert Dieter Pienky vom DGB die sinkende Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen, „hat die Studie gerade bewiesen, daß sich ein Lehrling unterm Strich wirtschaftlich durchaus rechnet.“ Denn die Einarbeitung von Fachkräften des Arbeitsmarktes sei meist teurer.
Nur das Handwerk baut Lehrstellen aus
Im Handwerk mit seinen zumeist kleineren Betrieben, die flexibler auf die Marktbedürfnisse reagieren können, werden dagegen mehr Lehrstellen als im Vorjahr angeboten. Zumindest im Ostteil der Stadt gibt es deutliche Zuwächse. „Angesichts der steigenden Schülerabgangszahlen ist das immer noch nicht genug“, sagt Friedrich Göbel von der Handwerkskammer. Insgesamt rechnet die Senatsverwaltung mit 5.000 fehlenden Ausbildungsplätzen. „Wir haben eine der schwierigsten Situationen der vergangenen Jahre“, resümiert Andreas Mögelin von der Senatsschulverwaltung. Deshalb appelliert der Senat an die Wirtschaft, verstärkte Anstrengungen zu unternehmen, um die Situation doch noch aufzufangen. „Die Wirtschaft ist gefragt“, bestätigt Ralf-Michael Rath von der Vereinigung der Unternehmerverbände in Berlin und Brandenburg. „Der Erhalt von Ausbildungsplätzen ist wichtig, um Qualifikationspotentiale für die Industrie bereitzuhalten.“
Kammern und Wirtschaftsverbände wollen sich daher verstärkt um neue Ausbildungsplätze bemühen. Sie setzen dabei auf „Ausbildungsberater“. Die sollen vor Ort die Betriebe überzeugen, neue Ausbildungsplätze zu schaffen oder wenigstens alte zu erhalten. Sie hätten bereits über 600 Plätze akquirieren können, gaben IHK und Handwerkskammer bekannt. Und der Senat möchte die Betriebe durch Prämienzahlungen zum Erhalt oder Aufbau seiner Ausbildungskapazitäten motivieren. 25 Millionen Mark würden benötigt, um die 5.000 fehlenden Ausbildungsplätze zu schaffen – eine nicht unumstrittene Politik.
Der DGB kritisiert, daß auf diese Weise nicht marktorientiert, sondern nach dem „Gießkannenprinzip“ gefördert würde. So manch ein Unternehmen könne sich zudem an den Prämien bereichern, indem es mit falschen Zahlen agiere. „Wir favorisieren eine Lösung mit Ausbildungsfonds und überbetrieblichen Ausbildungen“, sagt Dieter Pienky vom DGB Berlin.
Die Unternehmer setzen dagegen auf die Idee eines Ausbildungsverbundes, in dem große und kleine Firmen sich die Ausbildung von Lehrlingen teilen sollen. Wirtschaftsverbände und Senat hoffen, daß durch derartige Maßnahmen die Situation noch einmal aufgefangen werden kann.
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