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Geringer Materialaufwand

Auf der Suche nach dem Kern des Bewußtseins, aber in seinen Maßen von der figürlichen Wirklichkeit entfernt: Die Hamburger Kunsthalle stellt Thomas Schüttes Plastiken und Objekte über Fremde, Freunde und Feinde aus  ■ Von Gabriele Hoffmann

Während der Kasseler documenta9 bildeten „Die Fremden“ eine fast geschlossene Front über dem Säulenportikus des ehemaligen Roten Palais des Landgrafen von Hessen und heutigen Kaufhauses. Die lebensgroßen Terrakottafiguren des Düsseldorfer Künstlers Thomas Schütte, Flüchtlinge aus aller Welt in bunter Kleidung mit Säcken und Krügen, standen auf fast gleicher Höhe und in einer Linie mit den steingrauen Personifikationen der Künste und Wissenschaften über dem Portal des benachbarten Museum Fridericianum.

Eine dieser Familien ist in Kassel zurückgeblieben, den anderen begegnet man jetzt wieder in der Rotunde der Hamburger Kunsthalle, aufmarschiert zum „Feierabend, 17 Uhr“. Dort stehen sie vereinzelt, auf säulenartigen Podesten, in strenger würdevoller Haltung und alle mit gesenktem Blick. Lange Mäntel und Umhänge hüllen sie ein wie Schutzräume und berauben sie zugleich ihrer Bewegungsfreiheit. Neben jeder Figur ein mächtiger zugeschnürter Sack, in dem „der Fremde“ alles aufbewahrt und vor besitzergreifenden Blicken verbirgt, was untrennbar mit seinem Leben verbunden ist.

Die Ausstellung der Hamburger Kunsthalle ist eine Rückblende auf Schüttes figürliche Arbeiten der letzten fünf Jahre. Für seine Inszenierungen schafft sich der in den Siebzigern an der Düsseldorfer Kunstakademie von Gerhard Richter und Fritz Schwegler geprägte Künstler einen Manövrierspielraum, in dem auch die letzten Trennungslinien zwischen den einzelnen Bild- und Materialgattungen verschwunden sind: Schütte „bastelt“ sich sein Menschenbild auf der Basis eigener Erfahrungen – als Zeitgenosse.

Von 1981 stammt der vierzehnteilige Fotozyklus „Großes Theater“. Eine Dreiergruppe winziger „Star Treck“-Püppchen in weißer Turnerkleidung nimmt vor riesigen Prospekten, die solch hehren Begriffen wie „Harmonie“, „Sicherheit“, „Frieden“ und „Fortschritt“ als Kulisse dienen, die von einer vierten Spielfigur geforderte korrekte Haltung an. Schütte besitzt eine imponierende Fähigkeit, mit geringem Materialaufwand höchst komplexe Beziehungen, wie die zwischen sich selbst als Künstler und als Betrachter etwa, in einer offenen, Assoziationen herausfordernden Sprache darzustellen.

In dem Maße, wie sich seine figürliche Plastik von der Wirklichkeit entfernt, nähert sie sich dem Kern der im Bewußtsein abgelagerten Erfahrungswelt an. In einer autobiographischen Szenerie „Mohr's Life“ von 1988 vertritt ein Wäscheständer voller Socken in natürlicher Größe das Alltagsleben. Dem Künstler vor seinem Staffeleibild (auf dem die Kunst über die Darstellung einer sich entladenden Regenwolke Kontakt mit dem Alltag tropfnasser Socken aufnimmt) und einem Besucher, der gerade den Wäscheständer passiert, ist ein sehr viel kleinerer Maßstab zugewiesen. Die porträtähnlichen Wachsköpfe der Figurinen sind einem mit bunten Stoffen bekleideten dreibeinigen Holzgestell aufgesetzt. Frank Stellas „What you see is what you see“ verkehrt sich bei Schütte ins Gegenteil.

Doch selbst wenn man genau hinsieht, bleiben Zweifel, ob man das Angebot zum Weitersehen ausgeschöpft hat. Da gibt es zum Beispiel dreimal den „Mann im Matsch“. Eine aufwendige Architektur steckt das „Fundament“ möglicher Bedeutungen ab. Vier kreisrunde Flächen in zwei Etagen dienen einem bis zu den Waden „im Matsch“ steckenden Mann als Bühne für seinen Auftritt. Gleich daneben eine an Beckett erinnernde Miniaturausgabe von „Mann im Matsch mit Hund“ und eine dazugehörige feine Farbzeichnung mit dem Porträt des Versinkenden, in dem man „Paul“ (aus dem Zyklus „Paul and his six sisters“) wiederzuerkennen glaubt. Und nicht nur ihn, sondern alle, deren resignierter Gesichtsausdruck verrät, daß sie in irgendeinem „Matsch“ stecken.

1988 beteiligte sich Schütte am Wettbewerb für ein Denkmal für den zehn Jahre zuvor verschollenen Einhandsegler Alain Colas. Hier besteht der Sockel für das Bildnis des Helden aus zwei Paletten. Die sorgfältige, um Porträtähnlichkeit bemühte Modellierung des Kopfes bricht abrupt ab, das rotgefärbte Styropor in Höhe des Halses gibt dem Verschollenen den Touch des Revolutionärs.

Ein Verbindungsgang zwischen den Sälen der Kunsthalle bot sich für die Präsentation der Werkfolge „Hauptstadt II“ (1984) an. Auf acht vor die Wand gestellten rostroten Paneelen erscheinen in ausgesparten weißen Ovalen Entwürfe idealistischer Architektur, die sich durch ihre strenge Abgeschlossenheit gegen den Raum der Skulpturen annähern oder vice versa. Kaum vorzustellen, daß Schütte dabei nicht der den Fortschritt bejubelnden französischen „Revolutionsarchitektur“ – etwa Boulées kugelförmigem Newton- Zenotaph – und den Neoklassizismen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts bis hin zu Walter Gropius und den Surrealisten seine ironische Reverenz erweisen wollte. Wenn aber ein Grabstein zur schön geschwungenen Hausfassade und Flaschen zu Wachtürmen mutieren, entpuppt sich die Sammlung idealistischer Fortschrittsmetaphern ziemlich rasch als Arsenal kommunikationsfeindlicher Architekturmöbel. Schütte selbst nennt seinen Beitrag zur (inzwischen aktuellen) Hauptstadt-Diskussion einen „Alptraum aus Finsternis und Zerstörung“, entstanden aus „tiefer Depression“. Von der stummen Kulissenarchitektur geht es ohne Überleitung zu bunten „Fassaden“ des Menschlich- Allzumenschlichen: nach Volkskunstart mit bunten Stoffen drapierte „United Enemies“. Immer zwei ins Groteske gesteigerte feindliche Charaktere verkuppelt unter einer Glashaube.

Noch zugespitzter wirkt das Arrangement menschlicher Unverträglichkeiten in einer Fotoserie (farbige Offsetdrucke) durch die höchst effektvolle Lichtregie. Von den Figurinen mit wachsenen Köpfen über einem stoffbekleideten dreibeinigen Holzgestell kommt Schütte in den neunziger Jahren zu monumentalen Köpfen mit ausgeprägten Physiognomien. „Zehn Keramikköpfe“ auf hohem Stahlpodest sind in einer Ecke des letzten Ausstellungsraumes zusammengedrängt. Ein Menschen-, um genau zu sein ein Männer-Zoo, der seine Vorbilder nicht nur in der Natur, sondern auch in der Kunst von Leonardo bis Daumier hat.

Figurale Skulptur ist bei Thomas Schütte ein offenes und politisches Feld, aus dem das Erzählerische ebensowenig verbannt ist wie Dekoratives. „Ich denke, daß die Einbeziehung von Funktion keine gering zu schätzende Aufgabe für Künstler heute ist. Das Konzept ,Verbesserung der Welt‘ bleibt interessant.“ Ein Bekenntnis Schüttes, dem seine Kunst folgt, ohne doktrinär zu werden.

Thomas Schütte: „Figur“. Bis 26. Juni in der Hamburger Kunsthalle. Dann vom 3. September bis 16. Oktober im Württembergischen Kunstverein Stuttgart.

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