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■ Zwölf nationale StimmungswahlenEine verpaßte Chance

Nichts spiegelt den Zustand der Europäischen Union besser als diese Europawahl. Die Europäer sind aufgefordert, ihr Parlament zu wählen und machen zwölf nutzlose nationale Stimmungswahlen. Warum leisten wir uns diesen Zirkus? Ein Parlament, das von den Parteien, die in ihm sitzen, nicht ernst genommen wird, hat keine Macht und kann auch keine beanspruchen. Wenn die großen Parteien wenigstens den Versuch gemacht hätten, für eine linke oder für eine rechte Mehrheit in Straßburg zu kämpfen, dann hätten auch die Wähler gemerkt, daß es um Europa geht und nicht darum, die heimische Regierung zu deckeln oder die Opposition zu demütigen.

Aber dazu hätten sie den Wählern sagen müssen, wozu sie eine Mehrheit brauchen und was sie damit anfangen wollen. Sinnvolle Möglichkeiten gibt es: Am 6. Januar 1995 läuft die Amtszeit der Europäischen Kommission aus. Zum ersten Mal in der Geschichte muß die neue Kommission vom Parlament bestätigt werden. In den nächsten Wochen kungeln die zwölf Regierungschefs unter einigen konservativen Kandidaten den Kommissionspräsidenten aus.

Vor allem die Sozialisten und Sozialdemokraten haben die Chance verpaßt, dem Wähler deutlich zu machen, daß eine linke Parlamentsmehrheit jeden rechten Kandidaten verhindern und damit einen linken Kommissionspräsidenten durchsetzen kann. Das hat dann schon Einfluß auf die Zukunft der EU. Ob die Sozialisten wenigstens im nachhinein begreifen, worum es in der Europäischen Union geht, wird sich zeigen, wenn sich die Parteien aus den zwölf Ländern zu Fraktionen zusammenraufen. Rein rechnerisch kommen Sozialisten, Sozialdemokraten, Grüne, Linksliberale und andere linke Gruppierungen auf eine knappe Mehrheit im Parlament. Doch diesen bunten Haufen zu einer Koalition zusammenzubinden, und sei es nur für einige Themen wie Beschäftigungspolitik, Arbeitsschutz oder Umweltpolitik, kostet enorm viel Kraft und Geduld. Bisher gingen die Sozialisten lieber den leichteren Weg der großen Koalition mit der Fraktion der europäischen Volksparteien – zum Schaden der europäischen Demokratie.

Denn selbst die demokratischen Krümel aus dem Maastrichter Vertrag, die dem Parlament einige Mitwirkungsrechte bei der europäischen Gesetzgebung einräumen, selbst diese Krümel sind wertlos, wenn sich die Änderungsanträge des Parlaments regelmäßig auf bloße Formulierungsvorschläge beschränken, weil mehr in einer großen Koalition nicht möglich ist. Wenn eine linke Mehrheit wenigstens sporadisch den Ministerrat zu echten Gesetzesänderungen zwingt, nützt das der Europäischen Union mehr als all die unverbindlichen Schwüre auf Europa, die den Wahlkampf so unerträglich gemacht haben. Alois Berger

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