: Statisten des Zeitgeistes
Sie feiern. Aber haben sie es sich auch verdient? Rinige Überlegungen zur Frage: Warum die deutschen Schwulen so langweilig sind ■ Von Tilman Krause
Nun feiern sie wieder. Warum auch nicht. Aber mit welchem Recht eigentlich? Waren es deutsche Schwule, die jene legendäre Abwehrschlacht gegen Polizisten und andere, angemaßte Ordnungshüter geschlagen haben, welche sich dieses Jahr zum fünfundzwanzigsten Mal jährt? Können sie sich vergleichbarer heroischer Handlungen rühmen? Wäre Widerstand hierzulande überhaupt vorstellbar? Schwerlich. Die deutschen Schwulen, Statisten des Zeitgeistes, die sie nun einmal sind, marschieren beim Christopher Street Day mit, weil der große amerikanische Bruder es ihnen vormacht. Wie sie ohnehin eifrig exekutieren, was der Zeitgeist anzeigt. Man denke nur an die Subventionsempfänger-Mentalität, mit der eine aufgeblähte Aids-Bürokratie über ihre Einfallslosigkeit hinwegzutäuschen versucht. Oder an die um sich greifende Political correctness. Sie macht die Meinungsäußerungen der Schwulen vollständig vorhersehbar und sorgt so dafür, daß niemand sich für sie interessiert.
Bei den Bundestagswahlen im Herbst wird daher keine Partei um die Gunst der Schwulen werben, genausowenig wie man bei der jüngst vollzogenen Abschaffung des Paragraphen 175 auf homosexuellen Druck reagieren mußte. Die Schwulen stellen zwar eine weithin sichtbare Minderheit in diesem Lande dar. Einfluß oder auch nur gewichtige Stimme bei politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Fragen haben sie aber nicht. Wie man es von Statisten erwarten darf, bringen sie lediglich Farbe in die Landschaft. Zumindest ihr Körper ist gebildet, Expertenwissen in Sachen Herrenunterwäsche und Hairstyling unbestreitbar vorhanden. Kein Zweifel, die deutschen Schwulen sind brauchbar für dekorative Hintergrundgestaltung. Das Auge dankt es ihnen. Aber ist das genug?
Die von der Öffentlichkeit mit herzlicher Gleichgültigkeit behandelten Schwulenverbände werden für diese Einflußlosigkeit die angebliche Homophobie unserer Gesellschaft verantwortlich machen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Die Schwulen in Deutschland mobilisieren keine Energie, weil ihnen gerade die Feinde fehlen – Reagan, eine restriktive Gesundheitspolitik, kurz, Widerstände, an denen sich die amerikanischen Homosexuellen zur mächtigen Lobby emporgearbeitet haben, ohne die ein Clinton nicht Präsident geworden wäre.
Statt dessen bleiben sie brav unter sich. Ihre Berührungsscheu gegenüber dem heterosexuellen Teil der Bevölkerung mag man zum Teil auch damit erklären, daß dieser sie nicht auffordert, sich am öffentlichen Diskurs zu beteiligen. Aber wo täte man das? Doch beleidigt, weil man sie nicht will (und damit sehr deutsch), machen die Schwulen nun erst recht keine Anstalten, sich einzumischen. Haben sie sich dafür wenigstens untereinander etwas zu sagen? Kaum. Im vergangenen Jahr gab es Ansätze zu einer hausgemachten Schwulen-Debatte, die überdies das Zeug hatte, auch Heterosexuelle zu erreichen. Mit der Diskussion um die sogenannte Aids-Kultur ging es um den Stellenwert des Todes und der Trauer in unserer Gesellschaft. Eine Handvoll Autoren äußerte sich dazu in magnus. Möglicherweise zwei Handvoll ärgerten sich über einen einschlägigen Artikel von Fritz J. Raddatz in der Zeit. Doch was eine Lawine von Leserbriefen an beide Medien sowie Podiusmdiskussionen und Proseminare en masse hätte auslösen müssen, stieß auf blasierte Teilnahmslosigkeit.
Die überwiegende Mehrheit der deutschen Schwulen privatisiert und beschäftigt sich hauptsächlich mit der Organisation ihres Sexuallebens. Nichts gegen Sex, zumal unverkrampfte, phantasievolle Sexualität so ziemlich das einzige geworden ist, was Homosexuelle den Heterosexuellen voraushaben und was ihre Lebensform noch verlockend erscheinen läßt. (Es gab eine Zeit, da zählten auch psychologische Feinfühligkeit, Kultiviertheit und Fähigkeit zur Freundschaft dazu.) Aber Sex ist nur ein Ausschnitt der Lebenswirklichkeit.
Unsere Lebenswirklichkeit in ihrer Gesamtheit hingegen ist den deutschen Schwulen gleichgültig. Zumindest reflektieren sie sie nicht. Nichts bezeugt dies eindringlicher als ein Blick auf ihre literarischen Veröffentlichungen der letzten Monate. Da wäre das neue Buch von Deutschland bekanntestem schwulen Schriftsteller Detlev Meyer (Eremiten-Presse, Düsseldorf 1993). Was betreiben seine „Teuren Freunde“? Natürlich ihr Coming-out, die Ausweitung ihres Analbereiches, gemeinsame Masturbation. Lauter weltbewegende Dinge also, über die wir uns schon immer anhand von hübsch gepinselten literarischen Miniaturen orientieren wollten.
Erzählungen bietet auch Friedrich Kröhnke, der mit „P 14“ 1992 eine der schönsten Liebesgeschichten der letzten Jahre vorlegte. Nun hat er seinen Schreibtisch aufgeräumt, und die Schnipsel, die sich dort angesammelt hatten, nicht in den Papierkorb geworfen, sondern zwischen zwei Buchdeckel gepreßt („Dieser Berliner Sommer“, Verlag rosa Winkel, Berlin 1994). Das Resultat belehrt uns über Pädophilie als geistige Lebensform. Why not? Aber kann Kröhnke nicht zur Abwechslung über etwas weniger Abseitiges schreiben? Auch Udo Aschenbeck wiederholt sich. Sein Roman „Woll“ (Männerschwarm Skript Verlag, Hamburg 1994) ist zwar eine nette WG-Geschichte. Aber Leser mit Langzeitgedächtnis werden den lakonischen Ton seiner unprätentiösen Prosa in „Südlich von Tokio“ (Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1987) vorziehen, wo es um haarscharf dasselbe ging. Von Mario Wirz schließlich erscheint im August die „Biographie eines lebendigen Tages“. Der Verfasser, eines der lyrischen Talente unserer Tage, befleißigt sich nach bewährter Manier der Erkundung von Befindlichkeiten. Leider interessieren ihn ausschließlich die eigenen (Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar).
Da lobt man sich Unternehmungen wie die Anthologie mit Texten zum Thema Heimat („Ein Ort, überall. 18 Erfindungen von Heimat“, herausgegeben von Frank Heibert, magnus-Buch, Berlin 1994), weil hier der Blick wenigstens ein bißchen hinausgeht über den eigenen Bett- beziehungsweise Tellerrand. Doch die Frage bleibt: Warum so selten? Warum verlangen sich schwule Autoren wie die oben genannten, die ja allesamt durchaus begabt sind, so wenig ab und schmoren nur im eigenen Saft?
Vielleicht liegt es daran, daß niemand sie fordert und fördert. Bei progressiven Rezensenten können sie immer auf einen Minderheitenbonus rechnen. Konservative Gemüter lehnen sie ohnehin ab. Wirklich auseinandersetzen will sich keiner mit ihnen. Hier liegt auch ein Versagen der Kritiker vor. Vor allem der homosexuellen übrigens, die es mittlerweile in vielen wichtigen Medien und bisweilen sogar an verantwortlicher Stelle gibt. Nur treten sie – anders als in zivilisierten Ländern wie Frankreich oder den USA – nicht als Schwule in Erscheinung. Vor lauter Ergriffenheit, in den intellektuellen Aeropag der Republik aufgenommen worden zu sein, treiben sie ihre dankbare Anpassung bis zur Selbstverleugnung. Denn wer zum geistigen Deutschland gerechnet werden will, muß sich zuallererst eine asexuelle Ausstrahlung zulegen. Die Selbstverleugnung homosexueller Literatursachverständiger gleicht aber der Vogel-Strauß-Politik. Man gibt sich der Illusion hin, keiner merke etwas, wenn man nur selbst das Schreiben über Homosexualität vermeidet. In Wahrheit wissen natürlich alle Bescheid, erzählen sich genüßlich Anekdoten über die Verklemmten und amüsieren sich über ihre Feigheit.
Nur im Zusammenspiel von Kritikern und Autoren, deren Selbstbewußtsein daran erkennbar ist, daß sie mehr als ihr Sosein wahrnehmen, werden die Homosexuellen in Deutschland eine Stimme bekommen. Wenn sie allerdings ihre provinzielle Kleingruppen-Mentalität beibehalten, ändert sich nichts.
Sollten sie sich jedoch entschließen, sich endlich in den gesamtgesellschaftlichen Chor einzugliedern, könnte die intellektuelle Szene hierzulande um einiges aufregender, anarchischer und lebensfroher werden. Und das wäre sehr wünschenswert.
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