: Für Greenhorns und Grebos
■ Spät als „cool“ geadelt: Johnny Cash am 9. Juli im Stadtpark
Jeder intensive Musiknutzer kommt nach den Teenagerjahren irgendwann an den Punkt, wo er sich fragt: Was ist falsch gelaufen? Musik begeistert ihn nicht mehr so wie früher, er trauert den guten alten Zeiten nach, denkt, daß es diese jungen Bands einfach nicht mehr so draufhaben, oder umgekehrt, wird herablassend gegenüber seinem früheren Selbst und sagt sich: Wie blöd muß ich gewesen sein, mein Leben von ein paar idiotischen Popsongs dominieren zu lassen!
Wenn er Glück hat und genügend Intelligenz und Empfindungsgabe, wird ihm jedoch andere Musik über den Weg laufen, die ihn genauso begeistert wie einst Rock'n'Roll, HipHop oder Synthi-Pop. Das könnte Jazz sein oder Klassik. Oder Country. Denn in keinem anderen Genre wird sich so intensiv mit dem Leben ab 30 auseinandergesetzt.
Kaum ein Country-Musiker erhielt in den letzten Jahren so viele Liebesbeweise seitens der Hipster-Community wie Johnny Cash: Die Mekons organisierten ihm zu Ehren ein Tributalbum, David Letterman bezeichnete ihn als „the walking impersonation of cool“, Rick Rubin produzierte ihn für sein American-Label, Leute wie Tom Waits und Glenn Danzig rissen sich darum, Songs für diese Platte schreiben zu dürfen, und schon bei seinen letzten Hamburger Konzerten war das hiesige Häuflein der Underground-V.I.P.s nahezu geschlossen angetreten und feierte seine Neuentdeckung lautstark. (Man fragt sich, wo diese Leute vor Jahren waren, als Johnny Cash derselbe Mensch mit derselben Ausstrahlung war, dieselbe Musik machte und doch als „uncool“ par excellence galt – wahrscheinlich im Keller eines Vorstadteigenheims, wo sie Cola-Rum-berauscht zu Ten Years Afters „Goin' Home“ ekstatisch den Kopf schüttelten.)
Aber natürlich ist heute die Nachfrage nach Gestalten, die „real“ und nicht ausgedacht sind, so groß wie nie. Man hofft eben, daß ein wenig von der Aura eines echten Daseinskampfes auf einen übergeht, bei der man die Aussicht hat, ein Leben zwischen Fernsehen und Fußgängerzone zu verbringen. Wer heutzutage im Schaugeschäft den Leidenden oder Gelittenhabenden einigermaßen glaubhaft verkörpert, kann sich, wie das Beispiel Joe Cocker beweist, so gut wie alles erlauben.
Johnny Cash muß allerdings noch beweisen, daß ihn die massive Unterstützung der Hipster auch kommerziell wieder nach vorne bringt. Seinen letzten Hit hatte er 1981 und seine schönen Mitt-80er-Platten wurden vom Country-Publikum, das neuerdings jede Saison neue Jungstars feiert (auch Billy Ray Cyrus und Garth Brooks sind schon wieder out; Tim McGraw und John Michael Montgomery heißen die Neuen), völlig ignoriert. Nachdem schon De La Soul Cashs „Three Feet High and Rising“ als Titel ihrer Debüt-LP genutzt hatten und sein Produzent nun Rick Rubin heißt, kann er vielleicht in der Hip-Hop- und Metal-Käuferschar ein paar CDs absetzen.
Detlef Diederichsen
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