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Nur sturzbesoffen ist es schön

Bei Schwedens Jugendlichen haben Abstinenzverfechter nichts zu melden / Gesoffen wird nicht regelmäßig, sondern nach Kalender  ■ Aus Stockholm Reinhard Wolff

Gestern nacht standen die SchwedInnen vor einer schwierigen Entscheidung: Sollte man sich dem Mittsommerfest widmen oder dem Weltmeisterschaftsspiel Schweden gegen Rußland? Beides unter einen Hut zu bekommen war schwierig, weil das Mittsommerfest weithin gleichbedeutend ist mit einem heftigen Besäufnis. Wer nachts um halb zwei noch mit der Fernbedienung umgehen wollte, mußte auf eine „ordentliche“ Feier verzichten. Vorabumfragen in der Boulevardpresse signalisierten einen klaren Punktsieg fürs Saufen. Die Montagszeitungen werden also wieder einmal von den üblichen Bildern des traditionellen Festes geprägt sein: Krankenhäuser, in denen sich alkoholvergiftete Jugendliche und durch Messerstechereien und Schlägereien Verletzte drängen, zu Kleinholz zerlegte Tanzlokale, Vergnügungsparks und Campingplätze, schwere Verkehrsunfälle, ein Dutzend beim Bootfahren ertrunkene Säufer.

Schweden hat eine der strengsten Alkoholgesetzgebungen Europas und die höchsten Schnapspreise. Alkohol darf nur in staatlichen Läden verkauft werden, Reklame ist verboten. Es gibt eine politisch überaus schlagkräftige, aber glücklose Abstinenzlerbewegung: An den Schulen wird gesoffen wie seit langem nicht mehr. Der diesjährige Schulabschluß Mitte Juni wurde landesweit mit Saufgelagen begangen. Die Lokalradiosender von Stockholm schienen in der Nacht nach dem letzten Schultag aus einer Bürgerkriegsstadt zu senden: „Achtung, bewaffnete Jugendliche in der Innenstadt. Passanten wird empfohlen, Nebenstraßen zu meiden und keinesfalls ohne Begleitung die U-Bahn zu benutzen.“ Unter dem Titel: „Das sind eure Kinder“ veröffentlichte die Stockholmer Tageszeitung Expressen eine mehrseitige Bilderserie betrunken umherliegender 14- bis 16jähriger. Eine Klinik lud mitten in der Nacht zur Pressekonferenz, um eine endlose Reihe jugendlicher Alkoholopfer auf Plastikmatratzen geradezu vorzuführen. Und die TV-Diskussionsrunden setzten Debatten über Ausmaß und Ursprünge der jugendlichen Saufwelle auf das Programm. Beunruhigendes Fazit: Das von Rekordarbeitslosigkeit gezeichnete Schweden scheint vor einem Sommer der Gewalt und der Orgien zu stehen.

Schwedens Alkoholproblem ist termingebunden. Es wird nicht regelmäßig, sondern zu bestimmten, kalendarisch festgelegten Gelegenheiten sinnlos gesoffen. Weshalb die Jahresstatistik des Alkoholkonsums auch keine Auffälligkeit nach oben, sondern eher nach unten aufweist: Der statistische Pro-Kopf-Verbrauch beträgt sechs Liter reinen Alkohols im Jahr. Dänemark und Deutschland liegen bei 12 Litern. Das ist allerdings für die Gesundheitspolitiker kein Trost: Die Medizin ist sich darin einig, daß das unregelmäßige Totalbesäufnis für die Leber und die kleinen grauen Zellen genauso vernichtend ist wie der regelmäßige Schluck.

Vor allem aber lügt die Statistik: In wenigen Ländern dürfte das Schwarzbrennen so verbreitet sein wie in Schweden. Alles, was sich zu Alkohol destillieren läßt, von Kartoffeln bis zu Tomatenketchup, wird in Kellern und Schuppen durch selbstgebaute Destillationsapparate gejagt. Der neueste Renner ist das Chemikalienpaket eines Versandhauses, mit dessen Hilfe man zwar nicht Wasser, aber immerhin Traubensaft in „Wein“ oder, besser gesagt: einen alkoholhaltigen Kopfschmerzerzeuger verwandeln kann. Der Absatz ist reißend.

Nicht nur die Abstinenzlerbewegung befürchtet durch den Anschluß Schwedens an die Europäische Union eine unheilige Allianz kontinentaler und einheimischer Alkoholgewohnheiten. Mit dem Beitritt müßte Schweden das staatliche Alkoholmonopol aufweichen, die Preise müßten auf die Hälfte gesenkt werden, um das Niveau Dänemarks und Deutschlands zu erreichen. Ein solcher Preissturz aber, so die Sorge, könnte zu einer Verdoppelung des Alkoholkonsums führen, mit dem Ergebnis, daß sich entsprechend mehr SchwedInnen zu Tode saufen würden.

„Viele, die jetzt schon Alkoholiker sind“, so Sven Adreasson, Dozent für Gesundheitsforschung in Stockholm, „werden dann voll zuschlagen. Jetzt ist der Mangel an Geld das einzige Hindernis, sich zu Tode zu trinken.“ Diese Rechnung geht vermutlich so nicht auf – Preissenkungen dürften zu einer Abnahme des Schwarzbrennens führen, da sich die Mühe und das Strafrisiko nicht mehr lohnen. Dennoch bleibt offen, was die SchwedInnen zu einer maßvolleren Alkoholkultur verleiten könnte. Von Aufklärung hält Andreasson nicht viel: „Plakate mit dem Text: ,Trinkt nur ein Glas Bier‘ würden doch nur Lachkrämpfe auslösen.“ Im Katalog von Restriktionen, Strafen und Kampagnen gibt es nichts, was noch nicht ausprobiert worden wäre. Vergebens.

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