: Menschen wie du beziehungsweise ich im öffentlichen Raum Von Claudia Kohlhase
Müssen öffentliche Wände eigentlich immerzu sprechen? Auch wenn sie im Grunde nichts zu sagen haben, geschweige denn, daß ich mit ihnen reden will? Doch, da kennen die öffentlichen Wände nichts, da wird gequatscht, daß die privaten Wände wackeln würden, wenn sie auf solche Ideen kämen. Oder sich dauernd ausdrücken müßten, um ihr Innerstes nach außen zu kehren.
Jedenfalls: Es sprechen mittlerweile derart viele öffentliche Wände, daß man nirgendwo mehr seine Ruhe hat, nicht mal im dichtesten Gewimmel der Großstadt. Und womit wird gesprochen? Mit Kunst! Und zwar nicht mit irgendwelcher, sondern mit moderner. Und zwar nicht nur überall, sondern vor allem in meiner Sparkasse, in meiner Kantine, bei meinem Zanharzt und plötzlich auch noch in meiner Kneipe. Meinen Frisör lassen wir jetzt mal außen vor, der hat neulich in einem Akt von Einsicht wieder alles abgehängt.
Es will uns einfach niemand mehr gestatten, bloß auf kahle Wände zu starren und nichts Eloquentes denken zu müssen beim Schauen. Haben wir denn nicht zu Hause alle Wände voll zu tun? Mit Schlüsselbrettern, Handtuchhaltern und irgendwelchen voll gefüllten Bilderrahmen? Also müßten wir doch am öffentlichen Orte wenigstens ruhen dürfen. Aber nein.
Wenn's wenigstens was Erbauliches wäre wie früher, also Alpendrucke, städtische Seitenstiche oder Poster, die einen im Grunde nichts angehen. Aber heutzutage hängen bei meinem grausamen Zahnarzt, der einen doch schon genug zermürbt mit seinen Bohrern und Gummibäumen, die picassoähnlichsten Gesichtslandschaften. Nun gut, könnte man einwenden, das paßt ja dann auch wieder zu den armen Physiognomien vor Ort; aber in Wirklichkeit hängt der Zahnarzt die Gesichtslandschaft nicht für mich, sondern wegen sich auf: weil er ein guter, weil kunstsinniger Mensch sein möchte und mit der Aufhängung automatisch einer ist.
Damit sich seine Patienten beim Warten nicht die Zähne an seiner Kunst ausbeißen, hält er sich immerhin gemäßigte Bilder und gerne auch bunte. Warum aber in drei Teufels Namen hängt er sich seine Kunst nicht daheim aufs Klo? Wegen der Abschreibung? Weil's da schon voll ist? Oder weil ihn das weniger kunstsinnig machen würde? Iwo. Er will uns einfach täuschen über die Wahrheit seiner Grausamkeit und seines Ortes. Dabei müßte er beim Bohren bloß ein avantgardistisches Gesicht machen, um das Fehlen moderner Kunst in seiner Praxis zu kompensieren. Aber nein, er definiert lieber mit sieben Gesichtslandschaften in Öl die Schnöde seiner Öde zum Kunsttempel um. Nicht mit uns im Prinzip!
Na, mit Zahnärzten soll man sich ja eigentlich nicht solange abgeben. Aber was ist mit meinem Kneipenwirt – wer will in einer Kneipe schon vergessen, warum er hier ist! Meinen Zahnarzt kann ich ja zur Not meiden, bis mir der A7 von alleine ausfällt; jedoch nicht meine Kneipe, wo auf einmal diese alten Neuen Wilden hängen, wenn nicht noch wilder. Und bloß, damit ich nicht glaube, ich säße nur meines Mineralwassers wegen hier. Weswegen denn sonst? Ich, der Mensch des öffentliche Raumes, will meine öffentliche Ruhe und gar nicht besser sein als mein Ruf. Wo käm' ich da hin?
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