piwik no script img

Dieser Luxus ist Notwendigkeit!

■ „Glanz & Trümmer“ überall auf dem Kampnagel-Gelände

Eine Führung durch Versailles mitten in Hamburg: Wir sehen das Schlafzimmer Ludwig XIV., die Stallungen. Gilla Kremer und Max Eipp führen über das Kampnagelgelände und durch fünf Inszenierungen: Glanz und Trümmer nennt sich das Spektakel von 75 Theatermachern, Autoren, Musikern und bildenden Künstlern (-Innen). Dramaturg Michael Batz hatte die Idee, als zweiten Teil des Produktionsforums Stand der Dinge alle KampnagelmacherInnen zu einer Annäherung an den Produktionsort zu versammeln.

Die Führung unter dem Titel Kunst der Perspektiven, zu der das Publikum in zwei Gruppen geteilt wird, wird dem Anspruch der Annäherung an diesen Ort am deutlichsten gerecht: Ausgehend vom Zitat des Ex-Finanzsenators Curilla, das Kampnagel-Gelände sei Luxus, treten sie den Beweis an, daß hier nicht materieller Luxus existiere, sondern das kreative Potential der „Luxus“ der hier Arbeitenden sei - und den hat Hamburg nötig. Dabei erweist sich die Führung als absurd-irrwitziges Spiel mit der Biografie des Sonnenkönigs.

Das Wunderkind geht in Halle 6 in zwei Szenen um ein hochbegabtes Kind von Boguslaw Schaeffer über die Bühne. Mit Erscheinen des Regisseurs Michael Leye als Regisseur verschränken sich Spiel und Realität auf absonderlichste, verwirrendste Weise, die Trennung von Probe und Aufführung gerät durcheinander. Das Primat letzterer wird in frage gestellt. Freies Theater als Werkstatt-Theater?

In Foyer und Halle 1 setzen sich ein Ensemble um Eva-Maria Martin und die Gruppe Babylon mit der KunstKitschKrise dem Zusammenhang von Not(-wendigkeit) und Kunstmittels zweier Reden auseinander: Die Ergüsse des „Zeit“-Feuilleton-Chefs Greiner über die partielle „Entbehrlichkeit gegenwärtiger Kunst“ werden lustvoll zersetzt, ein „Blindgänger“ aus einer Hitlerrede über das „Aufräumen“ im Kunstleben wird heimlich eingeflochten. Die Gruppe Babylon bietet eine Adaption ihres Präsidentinnen-Bühnenbildes: Mariedl schaukelt als heilige Jungfrau, vor ihr liegen die Original-Hunde des letztjährigen Junge Hunde-Plakats, ein stummer Hamlet gestikuliert vor einer Projektion seines Monologs, und Ralf Knicker trägt einen Text von Werner Schwab über das nicht-existente deutsche Zeitstück vor. Theater als zeichenhaftes Selbstzitat? Eher eine anregende Auseinandersetzung mit Rezipientenerwartung und Tradition.

Das Schicksal der Lotti Phillips, die sich in einen Staubsauger verwandelt, führt in Manier des Theater Leutstetten-Stücks Rust never sleeps Massenmedienmechanismen vor: Medienenthüllung und Wahrnehmungskorrektur als eine Aufgabe freien Theaters.

Die Auseinandersetzung mit Theatermedium und Wahrnehmungsapparat sucht die Gruppe Besetzter Boden. Das mit Augenklappen behinderte Publikum erfährt, am Seil entlang tastend, Bühnenräume und eine Klangkulisse. Diese werden später zum Teil einer Performance: Bewegungen von sieben Hänsels und Gretels, Zitate aus Märchenwelt und GmbH-Statuten und Dias von Menschen mit Augenbinden - Theaterzeichensysteme werden getrennt und neu zusammengesetzt: Eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Medium Theater, die dem interdisziplinären Charakter Kampnagels nahesteht. Die phantasievolle und spannende Aufführung regt zur Reflektion über Formen, Sinn und Notwendigkeit des Freien Theaters an. Sinnlich demonstriert Glanz & Trümmer die Unverzichtbarkeit Kampnagels für Hamburg.

Niels Grevsen

Kampnagel,

noch heute & morgen, 20 Uhr

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen