: Gelber Schnee in Bahrenfeld
■ Schlechter wohnen tun die Menschen in der Leunastraße: Mit Atemnot und Dreckluft, und die Dämmstoff-Fabrik stinkt ungeprüft zum Himmel Von Ute Jurkovics
Es ist kurz nach ein Uhr nachts. Eine stürmische Nacht. Karl-Heinz Möllersen* kann nicht schlafen und hat noch einen Spaziergang gemacht. Er ist auf dem Weg nach Hause. In der Leunastraße, wo sich sonst um diese Zeit Hase und Igel gute Nacht sagen, fallen ihm ungewohnte Geräusche auf. Sie kommen vom Grundstück der Firma Detlef Rave, einer Fabrik für Dämmstoffe, die sich von der Ecke Bornkampsweg mehrere hundert Meter entlang der Leunastraße zieht. Am rund 30 Meter hohen Schlot der Firma machen sich Männer in Schutzanzügen und mit Atemmasken zu schaffen. Sie öffnen eine quietschende Klapptür auf etwa halber Höhe des Kamins. „Schwaden von Staubpartikeln in Tennisballgröße“ quillen daraus hervor und wirbeln durch die Luft. Dem nächtlichen Spaziergänger tränen die Augen und er macht sich davon. Am nächsten Morgen, als der Wind sich gelegt hat, sind die Straße und die Kleingärten gegenüber der hermetisch umzäunten Fabrikanlage mit gelblichen Flocken übersät.
„Das muß im Herbst 1989 gewesen sein“, sagt Karl-Heinz Möllersen. Es war das letzte, aber nicht das einzige Mal, daß er solche nächtlichen Aktivitäten bei der Firma Rave beobachtete. Er hatte sich vorgenommen, die Firma im Auge zu behalten. Doch dann rückte – aus privaten Gründen – dieses Thema für ihn in den Hintergrund.
Dabei stellt sich die Frage, ob es – von Anwohnern wie Karl-Heinz Möllersen einmal abgesehen – überhaupt jemanden gibt, den die Luftverschmutzung in diesem gottverlassenen Teil von Bahrenfeld interessiert. Die meisten Hamburger und ungezählte Pendler kennen den Bornkampsweg nur als Autobahnzubringer, als fußgängerbereinigte Trasse zur A7. Und falls doch einer hinterm Steuer zwischen stop and go das Häuserquarree am südlichen Ende des Bornkampsweg registriert, dann höchstens mit dem Gedankenblitz „mein Gott, wie kann man hier nur wohnen“.
Man kann eigentlich nicht – oberflächlich betrachtet. Die Lärm- und Abgasbelastungen durch die Ost-West-Schneise Hamburgs, der Stresemannstraße, durch die nahegelegene Autobahn und die Abfahrt Volkspark sind enorm. In Sichtweite schickt die Müllverbrennungsanlage Stellinger Moor die qualmenden Reste von jährlich rund 160 000 Tonnen Haus- und Gewerbemüll in die Luft. Und schräg gegenüber, Ecke Leunastraße, quillt Tag für Tag eine dichte, meist gelbliche Rauchwolke aus dem schwarzverfärbten Schlot der Dämmstoffefabrik Detlef Rave. Wenn die Autoabgase nach den Stoßzeiten verflogen sind, hängt oft ein undefinierbarer Geruch in der Luft, nach verbranntem Gummi, nach Chemie, man weiß es nicht genau. „Für mich riecht's eindeutig nach Dämmstoffen“, sagt Maren Ripperger, die in einem der Backsteingebäude in unmittelbarer Nachbarschaft der Firma wohnt.
Maren Ripperger ist Mutter eines dreijährigen Jungen. Vor fünf Jahren zog sie mit ihrem Mann in die Drei-Zimmer-Wohnung in der Reichardtstraße ein. Hinter der recht trist wirkenden Häuserfront am Bornkampsweg liegt ein fast malerisch verwinkelter Hinterhof mit Blumenbeeten, Rasen, Wäscheleinen und Spielgerät für die Kinder, der sich bis zu den Wohnhäusern an der Reichardtstraße erstreckt. Doch davon hat die Familie nichts. „Wir können den Hinterhof überhaupt nicht nutzen“, klagt Maren Ripperger, „da sind immer Schmutzpartikel in der Luft und von dem Gestank bekomme ich Halsschmerzen. Da seh' ich lieber zu, daß ich mit dem Jungen das Weite suche.“ Die junge Frau, die im Dezember ihr zweites Kind erwartet, hat Angst, daß die geruchsintensiven Stoffe mehr als nur Halsschmerzen verursachen können; daß ihr Sohn Nikias davon krank werden könnte.
Maren Ripperger hat ihre Beschwerden mehrmals bei der Umweltbehörde vorgebracht, bei einer Frau Geier. Die habe erklärt, daß der Betrieb alle drei Jahre kontrolliert wird und daß „organische Stoffe und Harze“ als Geruchsverursacher in Frage kommen. Maren Ripperger ist so schlau wie vorher. „Ich weiß immer noch nicht, was hier Tag für Tag in die Luft geblasen wird.“
„Mein Gott, wie kann man hier nur wohnen?“ fragen sich Besucher
Die Firma Detlef Rave, seit 1923 in Bahrenfeld ansässig, schmilzt Altglas und stellt daraus Dämmaterial her. Was dabei zum Himmel stinkt, geht aus einer Antwort des Senats auf eine Kleine Anfrage des grünen Umweltschutzreferenten Alexander Porschke im März hervor. „Geruchsintensive Stoffe“, heißt es darin, „können bei der Produktion durch den Einsatz von phenol- und formaldehyd-haltigen Harzen entstehen.“ Und weiter im selben Absatz: „Erkenntnisse darüber, ob bei der Produktion gesundheitsgefährdende Stoffe entstehen, liegen dem Senat nicht vor.“
Dabei pfeifen die Spatzen von den Dächern, wie giftig Formaldehyd ist, welche gesundheitlichen Schädigungen die Chemikalie hervorrufen kann. Die Palette reicht von Augen-, Atemwegs- und Hautreizungen bis hin zu Übelkeit, Müdigkeit, Konzentrationsstörungen und Allergien. Auch Phenol könnte für die Halsschmerzen von Maren Ripperger verantwortlich sein, da es ebenfalls zu Atemwegsreizungen führen kann. „Wenn es tatsächlich in der Außenluft in der Umgebung der Fabrik zu Schleimhautreizungen aufgrund dieser Stoffe kommt“, sagt Dr. Konrad Schwellnos von der Hamburger Chemieberatungsfirma Wartig ein wenig ungläubig, „dann müssen das wirklich hohe Konzentrationen sein.“
Dafür spricht auch, was die Mitarbeiter eines Autohauses Ecke Leunastraße/Bornkampsweg gleich gegenüber der Firma Rave erzählen. Sie rätseln schon lange, wovon ihnen an manchen Tagen die Augen brennen und was im Hals kratzt. Ein jüngerer Mitarbeiter lacht auf die Frage, ob es Auseinandersetzungen mit dem Fabriknachbarn gäbe: Von „Auseinandersetzungen“ könne man nicht direkt sprechen, „aber es ist schon vorgekommen, wenn wir morgens hierherkamen, dann haben Mitarbeiter von Rave unsere Wagen gewaschen.“ Vor der Tür des gläsernen Verkaufshauses stehen verschiedene nagelneue Peugeot-Modelle in mintgrün, weiß und rot. Die seien an solchen Tagen von einem Belag überzogen gewesen, den der Autowaschtrupp von Rave entfernte. Weniger spaßig findet der Verkäufer, „daß uns manchmal die Augen brennen und man heiser wird, von dem Gestank in der Luft.“ „Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich deshalb bei Frau Geier in der Umweltbehörde angerufen habe,“ bestätigt ein älterer Angestellter des Autohauses, der nicht genannt werden will. Er sucht in seiner Schreibtischschublade. Die Visitenkarte der Dame habe er wohl schon weggeschmissen. Kein Wunder.
Trotz jahrelanger Beschwerden aus der Nachbarschaft und obwohl der Dämmstoffabrikant dem Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSchG) unterliegt, also genehmigungspflichtig ist und sich an Grenzwerte halten muß, liegen der Umweltbehörde angeblich keine Informationen vor. Dabei ist Rave verpflichtet, Berichte über Giftstoffkonzentrationen, die dem Schlot seiner Fabrik entweichen, selbst vorzulegen. Kai Fabig, Sprecher der Umweltbehörde, sind Fragen danach ganz offensichtlich lästig. Man könne schließlich nicht erwarten, daß „eine alte Fabrik dem neusten Standard entspricht“.
Doch auch die Geruchsemissionen der Raveschen Fabrik, unter der die Anwohner leiden, unterliegen gesetzlichen Vorgaben. Auch Jan Rave, Juniorchef der Firma, ist zu keinerlei Auskünften bereit. „Es gibt Leute, die sich beschweren, daß es hier stinkt?“, antwortet er böse auf Nachfragen.
Die Umweltbehörde läßt sich Zeit. Ob die mehrstufige Naßfilteranlage, die Rave inzwischen eingebaut hat, noch optimiert werden muß, sollen Messungen vom März ergeben. Die Untersuchungen wurden von Rave selbst bei einer Hamburger Firma in Auftrag gegeben. Zu den Ergebnissen können die Sprecher der Umweltbehörde bis heute nichts sagen. „Das wird noch ausgewertet, das dauert noch.“
Neben Phenol- und Formaldehydharzen wird es dabei um den Anteil an künstlichen Mineralfasern in der Qualmwolke von Rave gehen. Noch Ende 1989, das geht aus einem Behördenbericht zur Stadtteil-Entwicklungsplanung in Bahrenfeld hervor, waren die Produktionsbedingungen bei Detlef Rave katastrophal. In den Erläuterungen zum „Programmplan-Ausschnitt Gemengelagen in Bahrenfeld“, einer Bestandsaufnahme der Baubehörde, heißt es: „Die Glasschmelze und Glasfaserspinnerei findet bisher in einem teilweise offenen Gebäude statt. Dadurch können Glasstäube und -fasern wie auch Abgase ungehindert entweichen. Dieses wirft Gesundheitsrisiken auf, die in einer Stellungnahme der Gesundheitsbehörde dargelegt wurden.“
Diese Stellungnahme existiert anscheinend nicht mehr. Die Sprecher von Umwelt- und Gesundheitsbehörde jedenfalls wissen nicht, wo sie geblieben ist. Doch bereits 1980 stufte die MAK-Kommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft künstliche Mineralfasern mit Durchmessern unter 1 Mikrometer als krebsverdächtig ein. Die Experten erstellen jedes Jahr erneut eine Liste der zulässigen maximalen Arbeitsplatzkonzentrationen. Faserstäube werden seit Herbst 1993 in der MAK-Liste differenzierter bewertet: Je nach chemischer Zusammensetzung als krebsverdächtig oder eindeutig krebserzeugend. Die Wissenschaftler weisen aber auch darauf hin, daß „langgestreckte Staubteilchen jeder Art im Prinzip die Möglichkeit zur Tumorerzeugung wie Asbestfasern besitzen, sofern sie hinreichend lang, dünn und biobeständig sind.“
In den Rave-Produkten sind lungengängige Faserstäube nachgewiesen
Fest steht, daß in Produkten der Firma Rave lungengängige Faserstäube enthalten sind. In einem Sonderheft des ÖKOTEST-Magazins zum Thema Bauen, Wohnen, Renovieren wurden deshalb Kerndämmplatten und Glasfaser-Randleisten von Rave als „nicht empfehlenswert“ eingestuft. Aber auch gröbere Fasern sind nicht ohne. „Sie können,“ sagt der Asbestexperte Schwellnos, „die Schleimhäute reizen.“
Weniger empfehlenswert ist es auch, in unmittelbarer Nachbarschaft der Glaswollefabrik zu wohnen. Mit Rücksicht auf die Wohngebiete in der Umgebung sind im Baustufenplan von 1952, der noch immer gültig ist, deshalb „in den Industrieflächen südlich der Straße am Diebsteich-Holstenkamp...besonders gefährdende – belästigende Betriebe – sowie Betriebe gemäß § 16 Reichsgewerbeordnung ausgeschlossen“. Dazu zählt auch der Altglasverwerter Rave, der sich zu einer Zeit dort angesiedelt hatte, als die Gegend noch als Fabrikzone ausgewiesen war. „Wenn man die Firma nach Inkrafttreten des Baustufenplans von 1952 stillgelegt hätte, wäre das entschädigungspflichtig gewesen“, weiß Curt Zimmermann von der Stadtplanungsabteilung Altona. „Der Baustufenplan aber sah keine Entschädigungen vor.“ Rave, der rund 100 Mitarbeiter beschäftigt, konnte bleiben.
„Der hat sich hier hochgebrannt“, sagt Antje Tantow, Obfrau der Kleingärtner in der Leunastraße, „früher war das nur eine Klitsche.“ Nur die Fahrbahn trennt die Laupenpieper vom Produktionsgelände gegenüber. Am Wochenende, wenn in den Gärten am meisten los ist, bewahrt eine Reihe grauer LKW-Züge mit der Aufschrift DERA-Dämmstoffe, dem Markenzeichen von Rave, die Hüttenbewohner vor der nackten Aussicht auf die noch tristere Fabrik.
Als ihre Mutter noch lebte, die nach dem Krieg in dem Kleingarten ihren festen Wohnsitz hatte, habe man die selbst angebauten Bohnen nicht essen können, „weil die innen und außen voller Glaswolle waren“, erinnert sich die resolute Mittfünfzigerin. Ihr Vorgänger als Obmann der Kolonie, Horst Eingräber, erstattete deshalb 1983 Strafanzeige gegen Detlef Rave „wegen Luftverunreinigung“. Antje Tantow kramt eine Kopie des Antwortschreibens der Staatsanwaltschaft Hamburg aus einem Aktenordner hervor. „...kann nicht nachgewiesen werden, daß die Emission von Glaswatteflocken geeignet ist, die Gesundheit anderer oder Pflanzen zu schädigen“, heißt es darin.
Heute sei es nicht mehr ganz so schlimm, „Rave hat wohl einiges gemacht“, stellt Antje Tantow fest. Doch noch immer findet sie hin und wieder „gelbe Glaswolleflocken“ zwischen ihren Beeten. Sie vermutet, daß die beim Verladen der Dämmstoffplatten auf der Straße ins Freie gelangen. Und manchmal läge „etwas Beißendes“ in der Luft. Dann meidet sie den Garten und bleibt im Haus, „weil ich davon schon Fieber und Husten bekommen habe.“
Das Verfahren beim Landgericht Hamburg gegen die Firma Detlef Rave wurde im März 1984 eingestellt. Der Kleingärtner Horst Eingräber, der es angeregt hatte, lebt nicht mehr. „Er ist an Kehlkopf- und Lungenkrebs gestorben“, weiß Antje Tantow. Ihr ist klar, daß dadurch nichts bewiesen ist, „aber Gedanken, die macht man sich schon.“
*Name von der Red. geändert
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