: An der Dattelpalme rechts abbiegen
Nach Jahren des Exils in mehreren Ländern sitzen nun viele Palästinenser auf gepackten Koffern / Für die Älteren geht ein Traum in Erfüllung, die Jugendlichen kennen Gaza nur aus dem Fernsehen ■ Aus Tunis Khalil Abied
Ich werde das Klavier nie vergessen. Es war ein Teil meiner Seele“, sagt die achtzehnjährige Rita Al-Dahban mit erstickter Stimme. Vor acht Jahren hatte die junge Palästinenserin ein Erlebnis, das ihre Zukunft veränderte. Als sie eines Tages im Garten ihres Hauses in Tunis spielte, hörte sie aus den Fenstern des Nebenhauses eine Musik, die sie bezauberte. Der französische Nachbar war Pianist. Seither eilte sie unter sein Fenster, um zuzuhören, sobald seine Finger die Tasten berührten. Der Mutter fiel die Veränderung ihrer Tochter auf; sie schickte sie auf eine Musikschule. Später schenkten die Eltern der begabten Rita ein eigenes Klavier. Und das wurde jetzt verkauft, weil die Familie in den Gaza-Streifen zieht, wo der Vater seit kurzem lebt. Er ist einer der neuen palästinensischen Polizisten. „Es war ein russisches Klavier, in einem strahlenden, dunklen Braun. Es war sehr schön“, sagt Rita träumerisch.
Die schneeweißen Wände und die Leere in den Räumen verbreiten die Atmosphäre eines Wartesaals. Rita, ihre Schwester Rula und Duha Al-Dahban, ihre Mutter, sitzen im Wohnzimmer ihrer fünfräumigen Villa auf den wenigen noch vorhandenen Stühlen. An den Wänden hängen noch einige Gemälde, in der Ecke steht eine Stehlampe. Die Mutter klebt Preisschildchen an die Gegenstände. „Drei Stück für 20 Dinar“, setzt sie die Summe für die Landschaftsbilder fest. Wie zuvor das Klavier, wird auch der Rest der Möbel verkauft. Familie Al-Dahban verbringt ihre letzten Tage in der tunesischen Hauptstadt.
„An dem Tag, als das Klavier verkauft wurde, konnte ich das Haus nicht betreten. Ich habe draußen gewartet, bis die Käufer es abtransportiert hatten“, erzählt Rita. Drei Tage lang habe sie mit ihrer Mutter kein Wort über das Klavier gewechselt. Dann, am vierten Tag, habe sie ihre Mutter gebeten, den Erlös aus dem verkauften Klavier beiseite zu legen, um in Gaza ein neues zu kaufen. „Sie sind diese Landstreicherei nicht gewöhnt“, sagt die Mutter und meint ihre beiden Töchter. „Ich dagegen wünsche mir, daß wir für immer in Gaza bleiben. Ich kann das Leben im Exil nicht mehr ertragen.“
Im Gegensatz zu Rita und Rula blickt Duha Al-Dahban auf ein ganzes Leben der „Landstreicherei“ zurück. 1948, als Israel gegründet wurde und der erste arabisch-isarelische Krieg ausbrach, war sie sechs Monate alt. Ihr Vater, ein „Mudschahed“, wie die palästinensischen Kämpfer damals genannt wurden, kam im Kampf gegen die jüdischen Verbände ums Leben. Ihre Mutter floh, wie so viele andere, mit dem Säugling und ihren Verwandten in den Libanon. Auch sie konnte das Leben im Exil nicht ertragen, versuchte dreimal, mit ihrer kleinen Tochter die Grenze zu überqueren, wurde von den israelischen Grenztruppen festgenommen und ins Exil zurückgeschickt.
Beim vierten Mal gelang es ihr, sich nach Jaffa durchzuschlagen. In einem Prozeß gegen die Behörden erstritt sie sich das Recht, in Israel zu bleiben, und fand eine Arbeit als Lehrerin. Doch auf Dauer wurde die alleinstehende Witwe mit der Diskriminierung und der strikten militärischen Kontrolle in palästinensischen Vierteln in jenen frühen Jahren des jungen israelischen Staates nicht fertig. Sie entschied sich für ein neues Exil im Libanon, diesmal freiwillig.
Dort kam sie vom Regen in die Traufe. Die arabischen „Bruderstaaten“ nutzten die palästinensischen Flüchtlingslager als politisches Druckmittel aus. An einer Verbesserung der miserablen Lebensbedingungen war ihnen nicht gelegen, die Flüchtlinge wurden als billige Arbeitskräfte am untersten Ende der gesellschaftlichen Hierarchie ausgebeutet und lebten abgeschottet von der Bevölkerung der Gastländer und bewacht in einem ewigen Provisorium. Dies änderte sich Ende der sechziger Jahre, als sich die palästinensischen Organisationen gegen die libanesische Regierung auflehnten. Die Lager wurden „befreit“ und unterstanden von nun an palästinensischer Kontrolle. Doch die wachsende palästinensische Befreiungsbewegung erlitt 1970 im sogenannten „Schwarzen September“ in Jordanien eine blutige Niederlage; Tausende von palästinensischen Kämpfern flüchteten in den Libanon. Die nun 22jährige Duha heiratete einen von ihnen.
Von Anfang an begleiteten Angst und Sorge das Leben der jungen Familie Al-Dahban. Im Jahr 1975 brach der libanesische Bürgerkrieg aus, an dem sich die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) aktiv beteiligte. Duhas Mann verschwand immer wieder für lange Wochen. Nach der israelischen Invasion im Libanon im Jahre 1982 mußten die Kämpfer der PLO das Land verlassen. Duhas Mann fand ein neues Exil in Tunesien. Die Familie folgte ihm einige Monate später.
„Ich erinnere mich noch an die Bomben und die Zeiten, die wir in unserem dunklen Bunker verbrachten“, sagt Rita, die sechs Jahre alt war, als sie nach Tunesien kam. „Weißt du noch, Mama, wie die libanesischen Soldaten unsere Wohnung überfielen und meine Puppe mit den Füßen traten?“ – „Nein, das waren die israelischen Soldaten, das mit den libanesischen Soldaten war, als sie die Schränke zerschlugen und die Matratzen aufschlitzten“, korrigiert die Mutter.
Nun bricht die jüngere Tochter Rula ihr bisheriges Schweigen. „Meine Freundin wollte mich bestechen“, sagt sie. „Sie will, daß ich bleibe, und ich will es auch, aber meine Eltern erlauben es mir nicht.“ Rula war erst drei Monate alt, als die Familie nach Tunis kam. Sie hat ihr ganzes Leben hier verbracht. Die Erfahrungen und Erinnerungen ihrer Mutter und Schwester kennt sie nicht. Sie hat in Tunis tanzen gelernt, macht bei einer wöchentlichen Tanzsendung im tunesischen Fernsehen mit und ist schon ein kleiner TV-Star.
Warum sie nicht „zurück“ möchte? „Man sagt, daß die Leute in Gaza konservativ sind und daß ich so nicht auf die Straße gehen kann.“ Rula trägt ein ärmelloses T-Shirt mit einem tiefen V-Ausschnitt und hautenge Jeans. „Ich habe auch gehört, daß nicht daran zu denken ist, mit einem Badeanzug im Meer schwimmen zu gehen.“
Zwischen beiden Schwestern beginnt eine Debatte, die in Französisch geführt wird, der Unterrichtssprache in der Schule. „Wir hatten die Möglichkeit, Klavierunterricht und Tanzstunden zu nehmen, weil wir das Glück hatten, hier in Frieden zu leben“, argumentiert Rita. „Unsere Leute in Gaza hatten nichts außer den Steinen zum Werfen, weil sie unter der israelischen Besatzung leben mußten. Jetzt, wo Frieden herrscht, müssen wir zurückkehren, um die Leute dort an all dem Schönen teilhaben zu lassen, das wir die ganze Zeit genießen konnten.“ Rula nickt, aber ganz überzeugt ist sie nicht. „Na ja, gut“, sagt sie, „aber wenn ich älter und wirtschaftlich unabhängig bin, kann ich selbst entscheiden, ob ich in Gaza bleiben oder nach Tunesien zurückkehren will.“
Ähnliche Probleme gibt es in der Familie von Alaa und Muna. Ihr achtjähriger Sohn Rami hat Angst davor, nach Gaza zu gehen. Zu oft hat er im Fernsehen gesehen, wie israelische Soldaten gegen palästinensische Kinder vorgingen. Der sechsjährige Imad freut sich dagegen auf die Rückkehr in ein Land, das er genauso wenig kennt wie Rula oder sein Bruder. Er möchte auch Steine auf die israelischen Soldaten werfen und ihnen das Victory-Zeichen „ins Gesicht werfen“. Da nützt es nichts, wenn seine Eltern ihm immer wieder sagen, daß die israelischen Soldaten aus Gaza abgezogen sind.
Auch Alaa und Muna blicken auf ein Leben von Vertreibung und „Landstreicherei“ zurück, selbst wenn Alaa erst Mitte Dreißig und seine Frau Mitte Zwanzig ist. Alaa stammt aus Nablus in der Westbank. Da er sich am Kampf gegen die Besatzung beteiligte, wurde er vertrieben. Er ging nach Ägypten, um dort zu studieren. Als sich die Beziehungen zwischen Ägypten und der PLO verschlechterten, ging er in den Libanon. Auch er verließ 1982 mit den PLO- Kämpfern das Land und kam nach Tunesien. „Die tunesische Phase war sehr wichtig für mich“, sagt er. „Hier konnte ich mein Studium abschließen. Ich habe den Führerschein gemacht, und vor allem habe ich meine liebe, schöne Frau hier kennengelernt.“
Munas Wangen färben sich rosa. „Das ruhige Leben hier war auch mir sehr wichtig, um meine innere Stärke wiederzufinden. Ich habe eine Computerausbildung gemacht und sehr aktiv in der Frauenbewegung gearbeitet.“ Muna ist jetzt Sozialhelferin in einem palästinensischen Waisenhaus, im selben Waisenhaus, in dem sie lange Jahre verbrachte. Muna wurde im Libanon geboren. Sie war acht Jahre alt, als libanesische Falangisten 1976 mit syrischer Unterstützung das Flüchtlingslager Tel el Zataar überfielen und ein Massaker verübten. Muna verlor ihre Eltern, zwei Brüder und weitere Verwandte. Sie kam ins Waisenhaus und wurde während des Krieges von 1982 zuerst nach Syrien und dann nach Tunesien evakuiert.
„Natürlich bin ich zufrieden, daß ich jetzt zurückkehren kann“, sagt Muna. „Aber ich werde keine Freudentänze aufführen. Es ärgert mich, daß ich Rabin erst um Erlaubnis fragen muß, ob ich kommen darf.“ Wie viele Palästinenser ist Muna bitter, daß sie auf eine israelische Genehmigung warten muß, wenn sie in die Autonomiegebiete fahren will. „Die Flächen der Friedhöfe, auf denen unsere Märtyrer begraben liegen, sind zusammengenommen größer als die Autonomiegebiete, die Israel uns zugestanden hat. Außerdem stammen meine Verwandten aus Gebieten, die im heutigen Israel liegen. Sie können nicht zurückkehren. Die Welt hat sie vergessen. Das Oslo-Abkommen ist ungerecht...“ sagt sie.
Auch Alaa darf nach dem Osloer Abkommen nicht nach Nablus zurückkehren, sondern nur nach Gaza oder Jericho. „Es gibt keinen Palästinenser auf der Welt, der nicht in seine Heimat zurückkehren will“, behauptet Alaa. „Natürlich würde ich selbst dann zurückkehren, wenn man uns nur einen Quadratmeter gegeben hätte. Aber wir werden unseren Kampf fortsetzen, bis wir einen unabhängigen palästinensischen Staat gegründet haben.“
In Tunis sind die meisten PLO- Büros bereits geschlossen. Unter den Rückkehrwilligen ist die Stimmung gemischt. Sie wissen meist noch nicht, wo sie wohnen werden und ob sie eine Arbeit finden. Es kursieren Sprüche wie: „Wenn man mich nach meiner neuen Adresse fragt, werde ich sagen, nach der fünften Bananenstaude geradeaus und dann an der siebten Dattelpalme rechts abbiegen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen