: Feige, dumm, bestraft
Im ödesten aller Viertelfinalspiele gewinnt Schweden gegen die Rumänen im Elfmeterschießen ■ Aus Palo Alto Matti Lieske
Nach all den fußballerischen Offenbarungen und Torgewittern der WM 1994 wurde es höchste Zeit, daß den US-Amerikanern endlich auch mal die im Vorfeld so häufig beschworenen Schattenseiten des Spieles vorgeführt wurden. „85 Dollar für solch eine Scheiße“, schimpfte lauthals ein aufgebrachter Zuschauer in der zweiten Halbzeit des Viertelfinalspieles Schweden–Rumänien, bevor er wütend seinen Platz verließ.
Wäre er geblieben, hätte er vielleicht doch noch ein bißchen Freude an dem Match gehabt, das gegen Ende zumindest eine gewisse Dramatik spüren ließ. Zum Zeitpunkt seines Aufbruchs jedoch hatte der zornige junge Mann vollkommen recht, denn die Darbietungen der beiden Mannschaften erinnerten eher an ein Steherrennen beim Radfahren als an ein Fußballspiel.
Vor lauter Angst, sich eine Blöße zu geben, mochte keiner die Initiative ergreifen, und so wurde der Ball die meiste Zeit im Mittelfeld hin- und hergeschoben. Erstmals in dem von Brasilianern, Kamerunern und Kolumbianern verwöhnten Stanford-Stadium war der Eisverkäufer weithin zu hören, und die 81.715 Zuschauerinnen und Zuschauer versuchten sich verzweifelt mit „La Ola“ wachzuhalten.
Die Rumänen benötigen für ihren exzellenten Konterfußball angreifende Gegner wie Kolumbien oder Argentinien, gegen die sie ihre großen Siege landeten, waren aber noch am ehesten in der Lage, ihren Tiefschlaffußball in plötzliche Attacken umschlagen zu lassen. Ihr Pech war, daß ihr gefürchteter Regisseur, der 29jährige Gheorghe Hagi, nicht seinen besten Tag erwischt hatte und mehr seinen frischgewonnenen Superstar- Status spazierentrug, als entscheidend ins Spiel einzugreifen. Auch nach dem Spiel fiel ihm wenig ein: „Gott war mit den Schweden. Er hat ihnen dieses verflixte Tor zum 2:2 gewünscht, aber wir haben keine Tränen.“
Auf der anderen Seite wurde Martin Dahlin von dem Glück verlassen, das ihn bisher so hartnäckig verfolgte, und verpaßte in der 4. Minute jenes Tor, welches das ganze Spiel verändert hätte, als er eine Ingesson-Flanke an den Pfosten köpfte.
Dahlins Sturmpartner Kennet Andersson war von Gheorghe Popescu praktisch abgemeldet, so daß Tomas Brolin, der mit seinen 24 Jahren immer noch aussieht wie aus der Alete-Werbung entsprungen, die einzige Gefahrenquelle für die Rumänen darstellte. Dummerweise legte er zwischen seinen guten Aktionen jeweils Pausen ein, die circa zwanzig Minuten dauerten.
Eine dieser Ruhephasen beendete er gerade rechtzeitig, um nach listigem Freistoßtrick in der 79. Minute das überraschende 1:0 zu erzielen und einen schwedischen Sieg in der regulären Spielzeit greifbar nahe zu bringen. Doch der eingewechselte Pontus Kamark beging eine Minute vor Schluß das Dümmste, was man in solch einer Phase tun kann: ein Foul in Strafraumnähe. Hagi schoß die Mauer an, der Ball prallte zu Florin Raducioiu, und der traf zum Ausgleich ins Tor. Verlängerung.
Ein weiterer Freistoßabpraller gab Radicioiu in der 101. Minute die Gelegenheit zu seinem zweiten Tor, danach flog Schwedens Stefan Schwarz nach gelb-roter Karte vom Platz, und alles schien endgültig entschieden. Doch die Rumänen bewiesen, daß sie eines ganz gewiß nicht sind: lernfähig.
Vor vier Jahren hatten sie mit Irland in Genua eines der gräßlichsten und ereignislosesten Spiele der Weltmeisterschafts-Geschichte absolviert, das lediglich den Iren gefiel, weil deren Team das Elfmeterschießen mit 5:4 gewann. Und auch diesmal ließen es die Rumänen wieder zum Elfmeterschießen kommen.
Zutiefst feige versäumten sie es, den Platz, den ihnen die schwedische Kamikaze-Offensive jetzt bot, konsequent zu weiteren Toren zu nutzen, und zogen es vor, den Ball in den eigenen Reihen zu halten. „Sie übertrieben es wahrscheinlich“, kritisierte selbst Trainer Anghel Jordanescu, „darum machten sie den Fehler.“ Popescu verließ sich in der 115. Minute erstmals auf seinen Torwart Florin Prunea, der prompt alles versaute und Kennet Andersson eine Nilsson-Flanke ungestört zum Ausgleich einköpfen ließ, was dem sich reumütig bekreuzigenden Keeper einen rüden Schubser von Popescu einbrachte. Vielleicht hätte Prunea das Kreuz lieber vorher schlagen sollen. Danach begnügten sich die Rumänen damit, das Unentschieden über die Runden zu bringen, anstatt mit ihrer Überzahl den Siegtreffer anzustreben. Die Strafe folgte auf dem Fuße, erneut verloren sie das Elmeterschießen mit 4:5, und noch lange saß Gheorghe Hagi danach hängenden Kopfes auf der Bank, verfluchte Prunea und stellte Betrachtungen darüber an, wie schnell man doch vom heißesten Anwärter auf den Titel des besten WM-Spielers zu einem ihrer vielen gefallenen Engel herabsinken kann.
Wie sagte doch Anghel Jordanescu: „Der Fußball kennt keine Gnade.“
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