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Koalitionskrise nach Berlusconis Dekret

Tausendfünfhundert Häftlinge in Italien freigelassen, dreitausend folgen noch / Zeitungsredaktionen mit Protestschreiben überschwemmt / Koalitionspartner gehen auf die Barrikaden  ■ Aus Rom Werner Raith

Unverhofft mächtiger Widerstand regt sich in Italien nach dem Sondererlaß der Regierung Berlusconi, mit dem faktisch alle wegen Korruption und Amtsmißbrauch inhaftierten Manager, Unternehmer und Politiker aus dem Gefängnis herausgeholt wurden. Mehr als 1.500 Personen kamen nach Verkündigung des sofort in Kraft getretenen Dekrets am Wochenende auf freien Fuß oder in Hausarrest. Gut zwei Drittel sind unter Korruptionsverdacht stehende Politiker oder wegen Bestechung angeklagte Manager, bei dem Rest handelt es sich um Personen, die teilweise schon in den unteren Instanzen wegen Bandenbildung und Rauschgifthandel verurteilt wurden. Weitere dreitausend Einsitzende sollen in den kommenden Tagen entlassen werden.

Seither überschwemmen wahre Fluten von Protestbriefen und geharnischte Telefaxe die Zeitungs- und Fernsehredaktionen. Zum ersten Mal ist der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg von Ministerpräsident Silvio Berlusconi in eine Krise geraten. Von ehemals gut 54 Prozent Zustimmung zu seiner Politik ist diese auf 48 Prozent abgesunken, während die Mitglieder der aus Protest gegen das Dekret zurückgetretenen Antikorruptions-Sonderkommission „Mani pulite“ nie gekannte Popularitätswerte nahe 85 (von 100 erreicharen) Punkten bekommen haben.

Hauptgrund der Kritik bei Bürgern und Kommentatoren ist dabei weniger die Tatsache, daß die Regierung die – in der Tat revisionsbedürftigen – Regeln für die Untersuchungshaft neu zu formulieren sucht, sondern der Modus. Ohne parlamentarische Debatte, ja, offenbar auch ohne ausreichende Kosultation der Koalitionspartner, wurden mit dem Dekret möglicherweise nicht mehr korrigierbare Fakten geschaffen. So hatten die Ermittler eine Reihe von Politikern vor allem deshalb in Haft behalten, weil diese vorher massiv Beweisvernichtung und Zeugenbeeinflussung betrieben hatten. Einmal freigelassen, können sie diese Verwischungsaktion wieder aufnehmen. Das Blitzverfahren, von Berlusconi und seinem Justizminister Alfredo Biondi mit „humanitären Erwägungen“ begründet, war nach übereinstimmender Ansicht aller Kommentatoren der einzige Weg, die Inhaftierten wirklich aus dem Gefängnis zu bekommen, denn im Parlament wäre ein derartiges Gesetz gescheitert.

Doch nicht nur die Opposition widersetzt sich dem Dekret – auch die beiden Koalitionspartner der „Forza Italia“ Berlusconis, die norditalienischen Ligen und die Nationale Allianz, verlangen Änderungen und drängen daher auf eine schnelle Durchführung der für Dekrete vorgeschriebenen Umwandlung in ein förmliches Gesetz innerhalb von drei Monaten. Dies würde eine Modifizierung ermöglichen. Die ansonsten als besondere Saubermänner auftretenden Neofaschisten der Nationalen Allianz sind dabei wesentlich zahmer als die Ligen. Deren wichtigster Mann im Kabinett, Innenminister Roberto Maroni, hat bereits seinen Rücktritt angekündigt, sofern Korruption nicht wieder in den Katalog der Straftaten aufgenommen wird, für die Untersuchungshaft angeordnet werden kann. Berlusconi hat bereits darauf geantwortet – mit einer für den um die Effizienz seines Polizeiressorts bangenden Minister geradezu beleidigenden Attacke: Er werde das Dekret gerne ändern – aber nur, um noch mehr Häftlinge auf freien Fuß zu bekommen.

Bleibt Maroni bei seinem Rücktritt und segnet die Liga diesen Schritt ab, so verliert die Regierung ihre parlamentarische Mehrheit. Berlusconi hat in diesem Falle bereits Neuwahlen angekündigt; eine Drohung, mit der er seine Bündnispartner bereits diverse Male gefügig gemacht hat, da die Umfragen in diesem Falle einen weiteren Stimmenzuwachs für der Regierungschef verheißen haben.

Diesmal scheinen die Zeichen jedoch nicht mehr so uneingeschränkt auf Gehorsam zu stehen. Die Ligen haben sich bei den Europawahlen besser als vermutet gehalten und könnten durchaus versucht sein, ihr relativ bescheidenes Resultat bei den Wahlen vom März aufzubessern – oder aber nach anderen Partnern Ausschau zu halten. Entgegen kommt ihnen dabei, daß bei der Demokratischen Partei der Linken wie bei den nun Volkspartei genannten ehemaligen Christdemokraten neue Parteiführungen walten, die weniger Berührungsängste mehr mit den Ligen haben. Eine stablie Koalition ließe sich rechnerisch dabei kaum zusammenbasteln. Aber für einige Monate könnte ein von kleineren Gruppen geduldetes Minderheitenkabinett einige tiefgreifende Gesetzwerke auf den Weg bringen, die Berlusconi nachhaltig schädigen würden, etwa durch Antitrustnormen, die das Imperium des Mailänder Großunternehmers zerstückeln oder ein neues Mediengesetz, das den Besitz privater Fernsehanstalten einschränkt. Berlusconis Traum einer schnellen, umfassenden Machtergreifung im Lande wäre damit ein schwer knackbarer Riegel vorgelegt.

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