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Berliner Berg-Parteien im Auf und Ab

■ Kostenloses West-Infoblatt „SO 36“ wird eingestellt, 5 DM teure Ost-Zeitung „Sklaven“ kommt / Franz Jung ist Titelgeber des „Sprachrohrs der Loe Bsaffot“

Soeben wurde, nach einer Nullnummer, die erste Ausgabe des Prenzlauer-Berg-Periodikums Sklaven ausgeliefert – und schon gibt es einige äußerst positive Reaktionen aus den Antiquariaten der Kreuzberger Oranienstraße. Dort wird die Monatszeitung als eine „Ost-Mischung aus Interim und SO 36“ rezipiert. Der Zufall will es, daß letztere, die Vereinszeitung der Interessengruppen des „Strategiengebietes“ um den Görlitzer Park, gerade kurz vor dem Aus steht. Das Umsonst-Info hatte zuletzt eine Auflage von 4.000, jede kostete zwischen 3.500 und 6.000 DM, in guten Zeiten wurde die SO 36 in 80 Läden ausgelegt. Vor zehn Jahren gab der Senat dem Verein noch Zuschüsse in Höhe von 1,3 Millionen Mark, jetzt sind es noch 230.000, die aber der Bezirk verteilen müßte, und der verspürt wenig Neigung dazu, obwohl sich die noch etwa 300 Vereinsmitglieder mehrheitlich aus SPDlern und ALern zusammensetzen. Eventuell wird die Stiftung „Netzwerk“ noch eine Ausgabe finanzieren.

Keimzelle von Verein und Info war 1977 der Ideen-Wettbewerb „Strategien für Kreuzberg“, an dem sich verschiedene „Projekte“ beteiligten, prospektiv eng geführt vom Kreuzberger Pfarrer Duntze. Zur gleichen Zeit wurde aber auch die alte Feuerwache in der Reichenberger Straße besetzt – sodann geräumt und blitzschnell abgerissen. Das brachte den Wettbewerb fast zum Platzen. Aus einem der wettbewerbskritischen „Stammtische“ bildete sich wenig später die Redaktionsgruppe der Zeitung Südost-Expreß (die bis 1990 existierte), aus der wiederum 1986 das Info SO 36 hervorging.

In der Nullnummer hieß es: „In Kreuzberg wird gebaut. Wenn man durch die Straßen geht, sieht man überall Baugerüste.“ Diese Sichtweise behielten die Redakteure bis zum Schluß bei. Es ging ihnen primär um die „behutsame Stadterneuerung“ – mit „Betroffenenbeteiligung“. Dazu gab es für das Gebiet um den Kotti die „Erneuerungskommission“, für die Gegend um den Görlitzer Park den „Stadtteilausschuß“ (ältestes Beteiligungsgremium der Stadt). Der jetzige Vereins-Ehrenvorsitzende und vormalige Baustadtrat Werner Orlowsky nannte das Ganze einmal „unser Kreuzberger Demokratiemodell“: in den 80ern ein Exportschlager unter innovationsfreudigen Sozialtechnologen (neudeutsch: Macher).

Damit ist auch schon begründet, warum das SO 36-Infoblatt nicht überleben konnte und die im Hintergrund agierende und es ebenfalls finanziell unterstützende Gesellschaft für behutsame Stadterneuerung, S.T.E.R.N., bereits in den Osten abgewandert ist. Den immer spärlicher fließenden Modernisierungsgeldern hinterher. Die „sanften Sanierungsstrategien“ waren von Anfang an oben und unten umstritten: Während die Senatspolitik zusammen mit der Baumafia versuchte, weiter ihre „Projekte“ mittels Justiz, Polizei, Sonderkommissionen und Staatssicherheits-Spitzeln durchzusetzen, und den Verein „SO 36“ dabei als „Bremser“ bzw. „alternatives Nest“ empfand, kämpften Autonome und Anarchos mit List und Terror gegen ihre Vertreibung per „Modernisierung“, wobei ihnen S.T.E.R.N. und linksalternative Stadtplaner oft genug als „Agenten des Kapitals und der Bullen“ unterkamen.

In dieser Mittellage wurde der Verein quasi strategisch aufgerieben, den Gnadenschuß bekam er indes durch Wiedervereinigung und Hauptstadtlüge. Die Beteiligten, die ihr mangelndes Kapital mit Aktivismus und Bildungstiteln kompensierten, empfanden sich denen da oben gegenüber immer als „fortschrittliche Demokraten“, den Gewalttätern da unten gegenüber als „das aufgeklärte Kreuzberg“. Ihr Scheitern kann man bedauern, nicht aber die Protagonisten dieser behutsamen Besitzstandsverbesserung: Der AL- SPD-Bezirksverordnete Volker Härtig saniert jetzt Großobjekte der Roten Armee in Brandenburg und ist Hausmitbesitzer, Karl Köckenberger, Betriebsratsvorsitzender bei Krupp und Regenbogenfabrik-Besetzer, brachte es bis zum Direktor des Kinderzirkus Kreuzberg-Treptow, der „Feuerwache“- Besetzer Erich Jesse wurde persönlicher Referent von Bausenator Nagel und stieg gerade in die Immobilienbranche ein, Ulf Mann, der mit seinem 55-Millionen-DM- Erbe die Stiftung „Umverteilung“ begründete, stieg unlängst aus seiner „Palmen-Apotheke“ aus und widmet sich nun verstärkt dem Kampf gegen die „Oberbaumbrücke“. Sie alle sind immer noch Mitglieder im „SO 36“, der sich drei festangestellte Leute leistet sowie das „Kaufhaus Kato“ als Veranstaltungszentrum. Über ihre bisherige Arbeit erschien soeben der zweite Band einer umfangreichen Dokumentation.

Nun zum Sklaven, „Sprachrohr der Loe Bsaffot“ (rotwelsch für „Fälscher von Dokumenten“): Das 5-Mark-Heft erscheint monatlich mit einer Auflage von 1.600 Exemplaren, die jeweils 1.000 Mark kostet. Sie werden im Verlag Basisdruck hergestellt. Wiewohl den „SO 36“-Vereinsleuten, was Alter und Bildung betrifft, durchaus ähnlich, sind der Krimi-Autor Wolfram Kempe, der „Café Torpedokäfer“-Mitherausgeber Stephan Döring, der Neue-Forum- Organisator Klaus Wolfram und die nomadischen Einzelkämpfer Stephan Ret und Bert Papenfuß- Gorek als Ostler jedoch besitzmäßig zu spät Gekommene. Außerdem neigen sie mehr der Kunst als der Politik zu. Statt in einer Mittellage aufgerieben zu werden, könnte ihre versuchsweise Verklammerung von oben und unten sie eher theoretisch ausfransen lassen. Verklammerung von oben und unten meint: daß sie a) einem Terrorismus (in Wort und Bild) huldigen und b) dem automobilen Luxus ebenso zugeneigt sind wie gewissen Größen der alten und neuen Arbeiterbewegung.

Von dem Dichter Franz Jung stammt im übrigen der Titel Sklaven (1927), die Zeitung erschien jedoch nie. Dafür wird jetzt sein letzter Mitstreiter, der Galerist und Satanist Jes Petersen, Autor des neuen Sklaven sein. Wie überhaupt die Prenzlauer-Berg-Monatszeitung von der Weite ihres Autorenfeldes leben wird, weswegen ihr auch, im Gegensatz zum SO 36, Architekturwahrnehmungen, ja jedwegliche Probleme von Behausung, erst einmal ziemlich am Arsch vorbeigehen. „Kampf“ und „Korruption“ sind ihr deswegen auch eher (existentialistische) „Themen“, wenn nicht gar „Boheme-Ideen“ (Jörg Schröder). In der derzeitigen Ost-West-Verwerfung kann aber auch so etwas schon „wirken“ oder besser „verwirren“: So reagierten einige im Prenzlauer Berg neu angesiedelte Westlinke äußerst sauer auf das Manifest der „Bewegung wider den Abschaum“, mit dem die zwei „Jungsklaven“ Norman Gorek und Matthias Herberg einen dialektischen Siebenpunkteplan zur Vernichtung der „Salonlinken“ in und zwischen den Schickeria-Lokalen um den „Wasserturm“ vorlegten – gleich in der 1. Nummer des „Sprachrohrs der rotwelschen Fälscher“. Diese reagierten denn auch dementsprechend gelassen: „Jede Reaktion ist besser als gar keine.“ Helmut Höge

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