: Nach 12 wird gemeckert
■ 30 Jahre „Essen auf Rädern“ / Pünktlichkeit ist oberste Pflicht beim Ausliefern
Begonnen hat alles 1964, als der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband (DPWV) die ersten Henkelmänner mit einer warmen Mahlzeit füllte und auf Tour schickte. Die rund 100 geworbenen Kunden erlebten damals die Geburtsstunde einer Bringdienstepoche, die heute wahre Blüten auf dem Pizzasektor treibt. 1964: Einige Monate später schlossen sich die Bremer Wohlfahrtsverbände Arbeiterwohlfahrt, Caritas und Innere Mission dem DPWV an, und aus einer kleinen Idee wurde eine große Sache. Das stetig expandierende Unternehmen versorgte immer mehr Menschen mit einem warmen Mittagessen. Inzwischen sind es 1.700 vornehmlich ältere Menschen, die diese soziale Dienstleistung in Anspruch nehmen, und sich damit für längere Zeit ein Leben in den eigenen vier Wänden ermöglichen.
Die Arbeit der Wohlfahrtsverbände verläuft nach nichtkommerziellen Gesichtspunkten, was zur Folge hat, daß nicht jeder, der zu faul ist zu kochen, ein Recht auf ein berädertes Essen aus der Großkantine hat. Berechtigt ist nur, wer über einen Rentenbescheid oder einen Behindertenausweis verfügt. Die jüngere Generation profitiert trotz alledem: sie sichert sich den Lebensunterhalt, indem der grüne Warmhaltekarton so schnell als möglich vom Auto zur Haustür und wieder zurück transportiert wird. Am Anfang waren es ausschließlich Zivildienstleistende, die diese Tätigkeit ausführten. Im Laufe der Jahre wurde es eine Mischung aus Zivis, Hausfrauen und Studenten.
Pünktlichkeit ist oberstes Gebot, denn nach 12 Uhr wird gemeckert. An dieser Stelle machen die langjährigen Kunden ihr Gewohnheitsrecht geltend, wenn schon sonst vieles nicht mehr so ist wie früher. Viele leben inzwischen allein und sehr zurückgezogen, was den jungen Menschen mit dem heißen Essen in einigen Fällen zu einem zentralen Punkt im Tagesgeschehen werden läßt. Zwischen Tür und Angel erfährt dieser dann aus erster Hand vom Widerstand gegen Hitler, oder warum auf dem Klingelschild von Herrn Sandmann „Kinghorst genannt Sandmann“ steht. Herr Sandmann heißt nämlich eigentlich auch Kinghorst, weil eine Urahnin im 17. Jahrhundert in ein Adelsgeschlecht heiratete und ihren Nachfahren dadurch permanente Scherereien mit den Behörden verursachte.
Materielle Bedürftigkeit ist allerdings ein Thema, über das äußerst ungern gesprochen wird. Die Scham über die geringe Rente ist dann auch der Grund dafür, daß der Zuschuß vom Sozialamt für das beräderte Essen oft gar nicht erst beantragt wird. Je nach Höhe der Rente ist es möglich, den Eigenanteil von von 7,50 DM pro Essen auf 3,30 DM zu senken. In Anbetracht der Speisekarte, auf der jeden Tag zwei Gerichte urdeutscher Kochkunst angeboten werden, kann man über den Preis nicht meckern. Über die Künste der Köche allerdings doch ab und zu. Wie vor 30 Jahren.
B.B.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen