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Die Stille der Steine von Warschau

■ Joe J. Heydecker fotografierte im November 1944 die zerstörte Stadt

Als der Unteroffizier der Wehrmacht Joe J. Heydecker im November 1944 das Stadtgebiet von Warschau betritt, sieht er nichts als Trümmer. Die Straßen, Wohnhäuser, Cafés, Läden, Theater, Kirchen und Kinos der Millionenmetropole sind zerbombt, gesprengt oder eingeäschert. Die Ruinen sind von allen Menschen verlassen, und über dieser Verlassenheit liegt Todesstille. Joe J. Heydecker hat eine kleine Kamera, eine Kine- Exakta, dabei, mit der hatte er sich schon 1941 ins Ghetto von Warschau geschlichen und die verhungernden Menschen fotografiert. Jetzt haben er und vier Kameraden eine Sondererlaubnis, um das von der Wehrmacht gesperrte Terrain zu betreten. Der offizielle Auftrag lautet, in der toten Stadt nach Radioersatzteilen zu suchen. Aber Heydecker sucht keine Ersatzteile, sondern die Reste von Warschau. Er dokumentiert die Zerstörung, die große Rache, die Hitler und Himmler nach dem Aufstand an der Stadt genommen haben.

Wir durchstreifen einen Wald bizarrer Kulissen. Sie ragen schwarz in abstrakten Formen auf, schwimmen drohend mit ungenauen Umrissen hinter den Nebelschleiern. Es ist schwer, an dem Gedanken festzuhalten, hier in einer Millionenstadt zu sein, die vollständig, absolut vollständig in Trümmern liegt, und daß diese Mauerreste ringsum nicht surrealistische Filmaufbauten sind.

Joe J. Heydecker schreibt diese Zeilen später, als Text zu seinen Fotos, die fünfzig Jahre nach der Apokalypse zum erstenmal erscheinen. Auch in Polen wußte man bisher nicht, daß sie existieren, daß es überhaupt Dokumente der Operation Auslöschung gibt. Wehrmachtsexperten, verstärkt durch Sprengkommandos des deutschen Zivilschutzes, hatten die Stadt nach dem Aufstand in 86 Planquadrate eingeteilt und Block für Block in die Luft gejagt.

Gräber sind überall. An den Seiten der Straßen, wo einmal Gehsteige waren, liegen Hügel, Hügel an Hügel. Es sind hunderte, hunderte, hunderte. In manchen Erdhaufen ist ein Brett, eine Latte gesteckt, worauf der kaum noch lesbare Name steht. Da und dort sind zwei Leisten zu einem Kreuz zusammengenagelt oder zusammengebunden worden. Jemand hat eine Konservendose hingestellt, aus der welke Zimmerpflanzen hängen. Doch das sind Ausnahmen. Die meisten Gräber sind namenlos. Nur Erde, eine zerbrochene Steinplatte, Schutt.

Und über all dieser Verlassenheit liegt die Stille. Es ist das Schweigen der Steine, das so erschüttert, schreibt Adam Michnik zu den Bildern der toten Stadt. Und die Stille ist es auch, die Joe J. Heydecker am nachhaltigsten erschreckt; eine Stille, die er gewaltiger als Lärm, als ein urweltliches Schweigen empfindet. Wir sind Traumwandler. Die Monotonie der Zerstörung, die Endlosigkeit ihrer räumlichen Ausdehnung, die Abwesenheit jeder menschlichen Dimension, sie rufen einen kaum erklärlichen Trancezustand hervor... Ich glaube, daß es in der Vergangenheit keinen Augenblick gab und daß es in der Zukunft kaum jemals wieder einen geben wird, an dem Menschen dem absoluten Stillstand der Zeit begegnen.

Einen Monat nach Entstehung der Aufnahmen zerreißt das Dynamit der deutschen Sprengkommandos auch das Königliche Schloß, den Dom und alle Denkmäler polnischen Selbstbewußtseins. Erst danach, im Januar 1945, rückt die Rote Armee in den großen Friedhof ein. Die sowjetischen Einheiten haben während der ganzen langen Monate ab August 1944 ein paar Kilometer östlich der Weichsel gestanden. Die Niederschlagung des Aufstandes und das Sterben der rebellischen Stadt paßte in Stalins Konzept eines devoten kommunistischen Landes. Anita Kugler

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