: Die Hitze bringt es an den Tag
Ein x-beliebiger Tag im Juli: Straßen sind wie ausgestorben, die Menschen vermeiden überflüssige Bewegungen, Getränke- und Eishersteller machen Traumumsätze, Kondome müssen in den Kühlschrank ■ Von Plutonia Plarre
Wie eine Krake liegt die Sonne hinter dem Dachgiebel auf der Lauer. Es ist acht Uhr in der Früh, das Thermometer zeigt 22,5 Grad im Schatten. In wenigen Minuten werden die sengenden Strahlen über die Ziegel klettern und ihre vernichtende Kraft entfalten. Aber noch herrscht im Hinterhof eine erfrischte Morgenstimmung. Die Blätter säuseln leise, die Vögel singen aus voller Brust. Auf einem Balkon frühstückt ein Pärchen. Doch der friedliche Schein trügt. Unten auf der Bank im Hof, der an den Parkplatz eines Supermarktes grenzt, hocken drei Stadtstreicher. Wie jeden Morgen beobachten sie die Verkäuferin von „Bolle“, die altes Gemüse und Obst vom Vortage in die Mülltonne schmeißt. Kaum daß die Verkäuferin mit ihren leeren Kisten entschwunden ist, strebt eine südländisch aussehende, einfach gekleidete Frau um die Mitte 40 auf die Tonne zu. Über ihrer Schulter baumelt eine große, leere Einkaufstasche. Einer der Landstreicher sieht's und baut sich drohend vor der Tonne auf. „Du raffiniertes Luder, du, was hast du hier zu suchen?“ brüllt er die Frau an. „Ich hol' die Polizei, die knallt dich ab.“ Die Frau weicht erschrocken zurück. Da kommt von dem Balkon unverhoffter Beistand: „Du Schwein, laß die Frau in Ruhe!“ prasselt es auf den Landstreicher nieder. „Die Mülltonne ist für alle da.“ Der Mann schielt vorsichtig nach oben und tritt den Rückzug an. Allerdings nicht, ohne sich vorher noch einen dicken Rettich aus der Tonne gesichert zu haben.
„Die ersten drehen durch“, heißt die Schlagzeile. Bild übertreibt ausnahmsweise mal nicht. Um zehn Uhr hat die Quecksilbersäule 25,0 Grad erreicht. Der Juli bricht als wärmster Sommermonat des Jahrhunderts alle Rekorde. Von den Azoren bis Finnland – an „Charly“, „Dirk“ und „Ewald“ kommt keiner vorbei, seit anderthalb Wochen gab es keinen Tag unter 30 Grad. Ein Ende ist nicht in Sicht. Wann, so fragt man sich mit Blick auf den ewigblauen Himmel, hat es zum letzten Mal richtig geregnet? Die Bauern sind schier am Verzweifeln. Schon wieder Murmelkartoffeln und Kümmer-Körner wie nach der großen Dürre im Frühjahr 1992? Der Deutsche Bauernverband barmt: „Wir brauchen dringend Regen, sonst gibt es eine Katastrophe.“ Die Linden in der Stadt rollen schon aus Selbstschutz ihre Blätter ein. „Gießt, bitte gießt!“ fleht die Baumschutzgemeinschaft. Die BSR verschenkt 1.000 Kannen, aber nur gegen das schriftliche Versprechen, auch fleißig zu wässern. Die älteren Semester erzählen von tropischen Zeiten wie die Väter vom Krieg: Der Sommer 19... war noch schlimmer. Aber das Wetteramt weiß es immer noch am besten. Seit 1831, dem Beginn der Messungen, gab es in Berlin nur zwei Tage im Juli, die noch heißer waren als der gestrige Sonntag mit 36,7 Grad: der 11. Juli 1959 mit 38,1 Grad gefolgt vom 10. Juli 1959 mit 37,6 Grad.
High-noon. Das Quecksilber kriecht auf 29,0 Grad. Das Hemd klebt am Leibe. Die wunderlichsten Düfte machen sich breit, denn die Hitze bringt es an den Tag. Am Maybachufer in Neukölln findet die Polizei die Leiche eines 56jährigen Mannes. Er ist einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen und hat über drei Monate tot in seiner Wohnung in einem teilweise entmieteten Haus gelegen. „Es roch immer so süßlich wie ganz billiges Parfüm“, erzählt ein Student, der zwei Treppen tiefer lebt. „Ich wußte nicht, daß so menschliche Verwesung riecht. Ich dachte, das wären die Außenklos.“ Der Tote war Einzelgänger und Alkoholiker. Obwohl sein Briefkasten überquoll, hat ihn keiner vermißt. Kriminalhauptkommissar Konrad Zehnpfenning wundert das nicht. „Manche Menschen liegen zwei Jahre und länger tot in ihrer Wohnung.“
Spätestens ab 14 Uhr, wenn die Quecksilbersäule 33,3 Grad erreicht hat, verfällt die Stadt in Agonie. Jetzt steigert sich die Hitze ins Unermeßliche. Um 17.30 Uhr erst ist mit 35,9 Grad der höchste Wert des Tages erreicht. Mediterrane Lebensweisen machen sich breit. In Ermangelung einer von Amts wegen eingeführten Siesta bleibt nichts anderes übrig, als jede überflüssige Bewegung bei der Arbeit zu vermeiden. Nebenstraßen und Geschäfte sind wie ausgestorben. Nur in den klimatisierten Supermärkten herrscht normaler Betrieb. Im Stau vor den Baustellen brennt die Luft. Langbeinige Radlerinnen, die mit falternden Röckchen an den Autofahrern vorbeiziehen, werden von schmachtenden Blicken verfolgt. Abgase machen das Atmen zur Qual, die Ozonwerte steigen. In den Freibädern ist die Hölle los. Vor den Kassen bilden sich endlose Schlagen. Wieviel am Tag kommen? „Zählen Sie doch selbst“, antwortet ein Bademeister völlig entnervt mit starrem Blick auf das wogende, kreischende Köpfemeer im Nichtschwimmerbecken.
Ventilatoren gehen weg wie warme Semmeln. Getränke- und Eishersteller erzielen Traumumsätze. In den U-Bahnen und Bussen kippen reihenweise Menschen um. Der Hitzekollaps ereilt bei weitem nicht nur Alte. Kürzer treten, viel trinken und luftig anziehen, rät Schwester Marita vom Urbankrankenhaus auch den jungen Menschen. Die Punkfrau „Sunshine“, die ihren Spitznamen dem tragischen Umstand verdankt, daß sie von einem LSD-Trip nicht mehr heruntergekommen ist, geht mit gutem Bespiel voran. Sie schlendert ganz langsam über die Oranienstraße, holt sich am Kiosk ein kleines Eis und verzehrt es genüßlich vis à vis in den „Flammenden Herzen“. In der Goebenstraße in Schöneberg breiten sich die Angestellten eines thailändischen Restaurants der Länge nach auf einer Strohmatte auf dem Bürgersteig vor dem Lokal aus. Unter schattigen Bäumen im Dennewitzpark zeigen türkische Familienväter ganz entspannt Brusthaar und Bauchspeck. Die Abendschau rät: Kondome im Gemüsefach des Kühlschranks lagern.
Um 22 Uhr sind es immer noch 30,5 Grad. Die Kinder wollen partout nicht ins Bett. Alle Fenster stehen offen. Fernseher, Musik, Babygeplärr und Lustschreie mischen sich im Hinterhof zu einem bizarren Tonbrei. In den Gartenlokalen ist kein Platz mehr frei. Im Uferschlamm der Krummen Lanke werden Sektparties gefeiert. Das Geschäft auf dem Straßenstrich boomt. Mitternächtliche Temperaturen von 28 Grad beflügeln die Phantasie: „Manche wollen's nur noch auf der Motorhaube“, erzählt eine 38jährige Hure in der Kurfürstenstraße. Egal ob im Stehen, Liegen oder auf dem Beifahrersitz, egal ob Französisch, Verkehr oder beides: „Die Männer kommen viel schneller als sonst. Die Hitze und die halbnackten Mädels machen sie einfach an. Keiner will sich lange mit irgendwelchen Bewegungen aufhalten.“ Die Huren wissen das zu schätzen. Aber auch die Spanner zieht es magisch ins Freie. „Das ist fast so wie bei Vollmond.“ Mit in der Hose versenkter Hand, halb hinter Bäumen und Büschen versteckt, saugen sich ihre Augen an den wogenden Brüsten und wiegenden Hüften fest. Die Frauen läßt das völlig cool. Ärgern tut es sie nur, wenn sich die Wichser auf dem Stellplatz hinter der Nationalgalerie an die geparkten Autos heranpirschen und mit ihren Taschenlampen das Schäferstündchen stören. Unterdessen wälzen sich Millionen schwitzend in ihren Betten, von surrenden Mücken zur Weißglut getrieben. Die letzten werden erst um fünf Uhr morgens vom Schlaf übermannt. Denn bei Sonnenaufgang ist es mit 21,5 Grad am kühlsten.
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